Im kommenden Frühling 2018 wird in Italien ein neues Parlament gewählt. Die Aussichten sind düster: In den letzten fünf Jahren hat Italien einen Rechtsrutsch aller institutionellen Parteien und einen massiven Angriff auf die Rechte der Lohnabhängigen erlebt. Die Versuchung ist entsprechend gross, sich bei den kommenden Wahlen für ein „kleineres Übel“ zu entscheiden. Darum ist es notwendiger denn je die zahlreichen und fragmentierten Stimmen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenzuführen – jenseits aller bisherigen Versuche, die „Linke“ am Reissbrett aufzubauen. Das ist der Grund, warum „Potere al Popolo“[1] lanciert wurde. Der folgende Artikel berichtet von den Hintergründen und der Entstehung dieses neuen politischen Projekts.

Von Ex OPG – Je so‘ pazzo


Das Projekt von Potere al Popolo ist auch für die Diskussionen um eine Neuformierung der antikapitalistischen Linken in Österreich sehr interessant, obwohl die gesellschaftlichen Bedingungen und die Erfahrungen der verschiedenen Strömungen der Linken sich beträchtlich unterscheiden. Wir übernehmen hier den Beitrag, den Mitglieder der Bewegung für den Sozialismus übersetzt und publiziert haben.


 

Über 800 Menschen waren am 18. November 2017 in Rom im Teatro Italia zusammengekommen, um der ersten nationalen Versammlung von „Potere al Popolo“ beizuwohnen. Junge und Alte, Frauen und Männer, Bewegungsaktivist*innen und Mitglieder von kleineren linken Parteien – wir alle sind Ausdruck eines Italiens, welches nicht resigniert und einen neuen Aufschwung linker, radikaler Politik mitprägen will. Alle waren dem Video-Aufruf der Aktivist*innen des centro sociale [soziale, meist besetzte Räume und Häuser] Ex OPG – Je so‘ pazzo in Napoli gefolgt, um bei den kommenden Parlamentswahlen aufgrund der Alternativlosigkeit sich selbst zu repräsentieren und dafür diejenigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte zu vereinen, welche in den Provinzen und Quartieren tagtägliche Basisarbeit gegen die herrschenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse vorantreiben. „An den kommenden Wahlen im nächsten Jahr wird es keine politische Kraft geben, welche unsere Bedürfnisse und diejenigen der grossen Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes aufnimmt und sie zu beantworten weiss. […] Wenn uns niemand vertritt und wir aber die Mehrheit dieses Landes darstellen, warum versuchen wir nicht, uns selber zu vertreten? Warum wagen wir diesen Schritt nicht?“

Krise der Repräsentanz…und der sozialen Bewegung

Diese Entscheidung, auf die Ebene der politischen Repräsentanz zu treten, entsteht aus einer aktuellen Analyse der politischen Lage Italiens. Für eine längere Phase und bis anfangs der 2000er Jahre war der linke Raum der Vertretung von denjenigen politischen Kräften besetzt, die im weitesten Sinne in der Tradition der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) standen. In einem solchen Kontext war es schwierig aus antagonistischen Positionen einen eigenen Raum der Repräsentanz zu schaffen, der auch Ausdruck von sozialen Kämpfen war. Es war damals aber auch noch einfacher auf der nationalen Ebene aus der Position der Bewegung politischen Druck auszuüben, so zum Beispiel über die uns nahestehenden parlamentarischen Parteien. Wir mussten uns also kaum um diese Ebene der Repräsentanz sorgen, was aber auch eine Beschränkung darstellte, denn wir konnten trotz wichtigen und grossen Bewegungen „die Welt nicht verändern“. Genua 2001, der Irak-Krieg 2003, zahlreiche Reformen gegen die Rechte der Arbeiter*innen… wird mussten in vielen Bereichen Rückschläge einstecken.

Seit 2008 und verstärkt seit die ökonomische und politische Krise 2010/2011 Italien massiver getroffen hat, haben sich nun auch die Instanzen der Vertretung destrukturiert. Es gibt niemanden mehr, der uns in irgendeiner Weise vertritt. Auch wir in der antagonistischen sozialen Bewegung waren nicht in der Lage dem punktuellen sozialen Konflikt auf der Strasse, dem gewerkschaftlichen Kampf oder der spezifischen nationalen Mobilisierung eine politische Perspektive zu geben. Sowohl auf der institutionellen, wie auch auf der Ebene der Bewegung, stehen wir also vor massiven Schwierigkeiten. Zusammenfassend gesagt: Seit zehn Jahren haben wir die institutionelle Vertretung, aber auch die Strasse verloren.

Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – existiert auf der lokalen Ebene eine Vielzahl von sozialen Basisinitiativen, die von den centri sociali und lokalen Vereinen organisiert und angeboten werden. Alternative Krippenplätze und Sportangebote, juristische Unterstützung von Migrant*innen und Arbeiter*innen, Gassenküchen als Antwort auf die sich immer weiter verbreitende Armut und vieles mehr: Seit mindestens zwei Jahrzehnten hat sich die radikale Linke auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Ausgebeuteten und Unterdrückten konzentriert – Bedürfnisse, welche kaum noch von den öffentlichen Institutionen oder von den traditionellen Organisationen der Arbeiter*innenbewegung (Gewerkschaften, Volkshäuser etc.) beantwortet werden. Auf der einen Seite ist das eine positive Entwicklung, da dadurch die radikale Linke vermehrt mit den sozialen und politischen Subjekten der gesellschaftlichen Veränderung in Verbindung steht, so werden die sozialen Bedürfnisse „politisiert“. Doch diese Politisierung bleibt auf der lokalen Ebene stehen und findet keinen Ausdruck auf der nationalen Ebene. Das ist der Widerspruch und die grosse Herausforderung, mit der wir uns heute als soziale Bewegung konfrontieren müssen.

Zur Methode des „Mutualismus“ und der „Kontrolle von unten“

Es ist kein Zufall, dass der Aufruf zur Konstituierung einer radikalen Linken Perspektive für die nächsten Wahlen aus Napoli stammt. Das centro sociale Ex OPG – ein ehemaliges psychiatrisches Gefängnis, welches seit 2007 leer steht und im März 2015 besetzt wurde – stellt wohl die Speerspitze der centri sociali in Italien dar. Und dies nicht nur wegen den zahlreichen sozialen Aktivitäten, die wir organisieren, sondern vor allem wegen der politischen Herangehensweise, die wir dabei entwickeln und zum Ziel hat, der kommunistischen Bewegung eine neue Struktur zu geben.

Wir bezeichnen diese Methode als „Mutualismus“ und „Kontrolle von unten“ (controllo popolare). Grundsätzlich geht es darum in der Auseinandersetzung und Konfrontation mit den Bewohner*innen eines Quartiers oder Stadtteils, mit den Arbeiter*innen also, eine Form der „sozialen Untersuchung“ zu entwickeln, um die Bedürfnisse vor Ort einzufangen, um die institutionellen Widersprüche zu verstehen, in denen wir uns bewegen und um konkrete Formen der gegenseitige Hilfe zu entwickeln. Durch diese sozialen Aktivitäten zeigen wir auf, dass es möglich ist gemeinsam und im Gegensatz zu den öffentlichen Institutionen eine konkrete Antwort auf die sozialen Bedürfnisse der Arbeiter*innen und Unterdrückten zu geben. Dadurch schaffen wir zusätzlich eine politische Orientierung für die Beteiligten, denn die sozialen Aktivitäten werden auf der Basis grundlegender, linker Prinzipien der Solidarität organisiert.

Diese Perspektive der gegenseitigen Hilfe bildet die Voraussetzung der Selbstorganisierung und -verwaltung der sozialen Aktivitäten. Doch sie bleibt im kleinen oder „Sozialen“ stecken, wenn wir uns damit begnügen würden. Durch soziale Mobilisierungen konfrontieren wir die politischen Institutionen mit den sozialen Bedürfnissen, mit den mangelnden oder fehlerhaften Interventionen der Politik und mit den Antworten, die von unten entstehen. Durch diese „Kontrolle von unten“ waren wir zum Beispiel in der Lage mit Asylsuchenden die Schliessung eines Asylzentrums zu erreichen, welches von einer kriminellen Organisation verwaltet wurde, und dadurch 3000 Aufenthaltsbewilligungen innerhalb eines Jahres einzuholen. Mit den Arbeiter*innen einer der wichtigsten Sehenswürdigkeit der Stadt haben wir Druck auf das Arbeitsinspektorat ausgeübt, so dass es gegen die Schwarzarbeit und gegen das Nichteinhalten grundlegender Rechte intervenieren musste. Zudem haben wir mit der Unterstützung von linken Anwält*innen viele Fälle von Rechtsverstössen vor das Arbeitsgericht gebracht und in mehr als 50 individuellen und kollektiven Kämpfen über 23’000 Euro wiedergewinnen können.

Vom centro sociale zum politischen Subjekt

Warum machen wir nun diesen Schritt auf die Ebene der institutionellen Repräsentanz? Besteht nicht das Risiko sich in die Machenschaften institutioneller Politik verwickeln zu lassen, sich zu verzetteln und die grundlegende Basisarbeit zu vernachlässigen? Diese Fragen und Sorgen sind berechtigt und wir haben sie intensiv diskutiert. Aber während den letzten zwei Monaten haben wir auch politische Erfahrungen gemacht, welche die Richtigkeit unserer Entscheidung bestätigen. Innerhalb von sechs Wochen wurden über 100 territoriale Versammlungen in ganz Italien organisiert. Wir wurden von allen möglichen Menschen und Aktivist*innen kontaktiert, die uns sagten: „Endlich kommt ein politischer Vorschlag, der nicht nach altem Politmuff riecht, sondern Frische und Enthusiasmus verbreitet. Wir nehmen die Herausforderung an.“ (#accettolasfida).

Wir sind also in den letzten sechs Wochen auf Rundreise gegangen, haben Aktivist*innen getroffen, die seit Jahren Basisinitiativen voranbringen, sich gleichzeitig aber auch in diesen Aktivitäten eingeengt fühlen und politisch weiterkommen wollen. Wir haben ältere Menschen getroffen, die sich aufgrund der vielen Enttäuschungen vor Jahrzehnten aus der Politik zurückgezogen haben und heute wieder aktiv werden wollen. Wir haben junge Menschen getroffen, die nicht organisiert sind und die nur darauf warteten, sich an ein politisches Projekt anschliessen zu können. Und wir haben am 17. Dezember 2017 eine zweite nationale Versammlung in Rom organisiert, an der sich über 1000 Personen beteiligten. Schon nur darum ist dieser Aufruf ein Erfolg: Wir haben uns und unsere politische Methode vorstellen können und wir haben andere Erfahrungen und Aktivist*innen kennengelernt.

Der Aufbau eines neuen politischen Subjekts ist jedoch auch immer dem Risiko ausgesetzt von alten Politiker*innen, die sich auf der institutionellen Ebene wieder ins Spiel bringen wollen, eingenommen zu werden. Die territorialen und lokalen Strukturen und Versammlungen müssen also wachsam bleiben, um diesem Risiko entgegenzuwirken.

Schliesslich wird sich der Erfolg von „Potere al Popolo“ nicht daran messen, ob wir die 3%-Hürde nehmen werden oder einen, zehn, hundert Sitze besetzen können, sondern daran, ob wir diesen medialen Moment nutzen können, um ein Netz von Genoss*innen zu spannen, welches auf der lokalen Ebene, inspiriert durch unsere politische Herangehensweise, soziale Kämpfe vorantreibt und organisiert, um sie dann auf eine höhere Ebene zu bringen. „Potere al Popolo“ muss also als eine kollektive Aktionsform verstanden werden, welche uns erlaubt, die Legitimität eines historischen Blockes wiederaufzubauen. Wir wollen ein politisches Subjekt sein, welches die zahlreichen Stimmen der Ausgebeuteten und Unterdrückten vereinen kann, in der sozialen Praxis des Widerstandes und der Gegenmacht wurzelt und sich darin entwickelt. Die Parlamentswahlen sind daher nur ein Instrument, um diesen Stimmen einen Ausdruck von unten zu geben. Sie sind in keiner Weise der Mittelpunkt unseres Handelns. Mit unserer politischen Herangehensweise und unserer sozialen Praxis schaffen wir schon heute neue Institutionen der Selbstorganisation und -verwaltung in den Quartieren und an den Arbeitsplätzen. Diese sind jedoch zurzeit noch isoliert und fragmentiert. Es wird nun unsere Aufgabe und die grosse Herausforderung sein, diese weit über den Wahltermin hinaus zu vereinen.

Fussnoten

[1] „Potere al Popolo“, englisch „Power to the People“, kann auf deutsch nicht wörtlich übersetzt werden, da es nicht dem politischen Inhalt des englischen und italienischen Ausdrucks entspricht. Der Ausdruck „Alle Macht den Arbeiter*innen“ kommt dem Konzept am nächsten.

 

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