Man muss viele Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückgehen, um in der Geschichte Algeriens eine Bewegung zu finden, die mit der aktuellen Protestwelle gegen die Regierung vergleichbar ist. In diesem Artikel liefert Lamri Lakrache einen Überblick über die Geschichte Algeriens seit der Unabhängigkeit von 1962 und zeichnet die Entstehung der gegenwärtigen Bewegung nach. (Red.)

von Lamri Lakrache, aus Sozialistische Zeitung, Mai 2019

Seit der Unabhängigkeit 1962 hat Algerien keine derart breite, tiefe und dauerhafte Massenbewegung mehr gegen das herrschende politische Regime erlebt. Soziale Erschütterungen wie der «Printemps berbère» (Berber-Frühling) 1980, die Brotaufstände 1988, der schwarze Frühling 2001 und der arabischer Frühling 2011 haben trotz ihrer tiefgreifenden politischen Wirkungen nicht so viele Menschen mobilisiert wie der gegenwärtige Massenaufstand.

Seit acht Wochen versammeln sich in allen Städten und Provinzen des Landes Millionen Menschen zu den «Freitagsdemonstrationen». Zunächst lehnte sich die Bevölkerung gegen eine fünfte Amtszeit von Präsident Abdelaziz Bouteflika auf. Inzwischen fordert sie, dass alle Machthaber des verhassten politischen Systems ihre Posten räumen. Die Demonstrierenden skandieren Parolen wie «Dégagez tous», «Haut alle ab, ihr habt das Land ausgeplündert, ihr Diebe», «Algerien frei und demokratisch».

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 wird das Land von Militärs geführt.

Die Bewegung hat generationsübergreifend breite Schichten der Bevölkerung erfasst. Die Mehrzahl der Teilnehmer sind jedoch junge Menschen, Schüler, Studenten, Arbeiter und junge Arbeitslose – 27 Prozent der algerischen Jugendlichen sind arbeitslos. Neu im Bild der algerischen Proteste ist die massive Präsenz von Frauen. Und bemerkenswerterweise fehlt jeder religiöse Bezug zum politischen Islam – sowohl in den öffentlichen Medien wie auch auf der Straße.

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 wird das Land von Militärs geführt. Die Armee und die politische Polizei («Sécurité Militaire») definieren, strukturieren und bestimmen maßgeblich das politische Feld in Algerien; darüberhinaus sind sie an allen wichtigen politischen und institutionellen Entscheidungen beteiligt.

Der siebenjährige, erbitterte bewaffnete Widerstand von 1954 bis 1962 gegen die Kolonialmacht Frankreich sowie die innere Zerrissenheit der FLN-Führung (Front de Libération National) während des Kriegs und in der Folgezeit führte fast zwangsläufig zu einer Militarisierung der Lebensverhältnisse in der ganzen Gesellschaft. Er begünstigte auch, insbesondere im Bewusstsein der Widerstandskämpfer, einen autoritären bis verschwörungsphobischen, aber vor allem militärischen Begriff des Politischen, was bis heute seine Spuren in der Herrschaftsstruktur hinterlassen hat.

In der ersten, sehr kurzen Phase der Regierungszeit von Staatspräsident Ahmed Ben Bella (1962–1965) wurde die FLN zur einzigen und offiziellen Einheitspartei. Alle großen Verbände der Arbeiter, Bauern und Studenten wurden unter diese Staatspartei subsumiert. Es gab kaum eine freie Presse. Streikrecht und Versammlungsfreiheit waren entweder sehr eingeschränkt oder verboten.

In dieser ersten Phase gab es sozialökonomisch gewagte Experimente. Mehrere Figuren der extremen Linken waren in dieser Phase noch in den Beratungs- und Entscheidungsgremien Benbellas aktiv. Michel Raptis und Mohamed Harbi [1] gehörten damals als Berater der Regierung Ben Bella an. Der linke Flügel der FLN war inspiriert von den jugoslawischen Selbstverwaltungserfahrungen in der Landwirtschaft und versuchte dieses Modell auf Algerien zu übertragen. Der Versuch scheiterte jedoch an der Bürokratisierung und Hyperzentralisierung der betrieblichen Entscheidungen.

International war die Zeit geprägt durch erfolgreiche nationale Befreiungskämpfe gegen den Kolonialismus und Imperialismus und die Bewegung der Blockfreien Staaten. Algier unterstützte die Befreiungskämpfe in Mosambik, Angola, die Black-Panther-Bewegung sowie die portugiesischen Revolutionäre. Che Guevara hielt 1963 seine berühmte Rede, in der er die Bürokratisierungsprozesse in der UdSSR anprangerte, in Algier.

Die Revolution wird gekapert

Im Jahr 1965 putschte der Oberst Boumedienne gegen Ben Bella. Boumedienne war der Idealtypus eines Militärs: streng, fromm, spartanisch. Er war das Produkt der religiös-konservativen Al-Azhar-Universität und der Militärakademie in Kairo, wo er ausgebildet wurde. Mit Bouteflika gehörte er zur «Gruppe Oujda», einer politisch-militärischen Splittergruppe in der FLN, und war bis 1962 Chef der Grenzarmee. In seiner Regierungszeit beschleunigte und intensivierte sich der autoritäre und repressive Charakter des Staates. Die «Sécurité Militaire» als Staat im Staat wurde zum Inbegriff von Terror und Willkür.

Unter der Herrschaft von Boumedienne wurden historische Führer wie Mohamed Khider, Krim Belkacem sowie der Dichter und Revolutionär Jean Senac (im Gegensatz zu Albert Camus unbedingter Verfechter der algerischen Revolution) und viele andere vom algerischen Geheimdienst umgebracht. Folter und das «Verschwindenlassen» von Oppositionellen wurden regelrecht institutionalisiert.

Die FLN wurde weitgehend entpolitisiert und zunehmend ein Apparat zur Förderung von politischen und bürokratischen Karrieren und ein Selbstbedienungsladen für korrupte Funktionäre. Die politische Sozialisation in den Strukturen der FLN führt bis heute großenteils zu einer Kultur des Gehorsams und der Speichelleckerei.

Die UGTA (Union Génèrale des Travailleurs Algériens), die größte und mächtigste Arbeitergewerkschaft des Landes, wurde der Staatshierarchie einverleibt und verlor ihre politische Autonomie. Der Islam als «Staatsreligion» wurde institutionell ausgebaut und fand Verbreitung nicht nur in den Moscheen, sondern auch in Schulen, Universitäten, in den Medien und der Justiz.

Nach dem Tod von Boumedienne im Jahr 1978 hievten die Militärs ihren neuen Mann, den Oberst Chadli Bendjedid an die Spitze des Staates. Es folgte die Politik des «Infitah», das heißt Herstellung und Ausweitung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung. Sie führte zur Zerschlagung und Privatisierung der staatlichen Unternehmen und zur Infragestellung des Handelsmonopols des Staats; zu hoher Arbeitslosigkeit, starker privater und Staatsverschuldung, einer hohen Inflation bis hin zu einem signifikanten Mangel an und zur Verteuerung von wichtigen Lebensmitteln.

Das Regime Bouteflika

Ende der 80 Jahre war das Land in einem katastrophalen Zustand. Im Oktober 1988 gingen die Menschen auf die Straße, der Widerstand wurde blutig niedergeschlagen. Bendjedid musste jedoch das politische Feld aufschließen. Verbände, eine freie Presse und freie Wahlen wurden nun erlaubt. Es entstanden neue politische Parteien, zuvor verbotene wurden wieder zugelassen. Das Streikrecht wurde wieder eingeführt und es bildeten sich neue freie Gewerkschaften. Zum ersten Mal gab es in Algerien freie Wahlen.

Diese brachten den Islamisten hohe Erfolge, zunächst bei den Kommunalwahlen, dann bei den Parlamentswahlen, die sie Ende 1991 haushoch gewannen. Erneut putschten die Generäle. Im nachfolgenden Bürgerkrieg starben etwa 150000 Menschen. Der 1988 begonnene Demokratisierungsprozess war 1991 schon zu Ende.

1999 ernannte erneut ein Militärgremium Abdelaziz Bouteflika zum Präsidentskandidaten. Er blieb 20 Jahre an der Spitze des Staates. Unter seiner Führung häuften sich Megaskandale bei der Verwaltung des Staatshaushaltes.

Im Laufe des arabischen Frühlings 2011 gab es wieder Protestaktionen. Das Regime fürchtet damals, es könne sich in Algerien eine ähnliche Entwicklung ausbreiten wie in der restlichen arabischen Welt. Bouteflika wurde auf einmal spendabel. Er stellte Geld für die Stabilisierung der Konsumpreise bereit, beschleunigte den Bau von Wohnungen, vergab massenhaft Kredite an Jugendlichen und verkündete Pläne für gigantische Infrastrukturprojekte. Die «größte und schönste Moschee der Welt» sollte gebaut werden. Er versprach auch mehr Sicherheit, mehr Freiheit und mehr Toleranz und Vielfalt in den Medien.

Im herrschenden «Block an der Macht» verschob Bouteflika nun die Kraftverhältnisse. Er entmachtete den allmächtigen Geheimdienstchef, Mohamed Mediane. Mit seinen zwei Brüdern, weiteren mächtigen Staatsbeamten, einflussreichen Funktionären wie dem Chef der UGTA, Sidi-Said, sowie prominenten Mitgliedern der Parteien FLN und RND bildete er einen mächtigen Machtpol zwischen der Armee und den Geheimdiensten – von der kritischen Öffentlichkeit als der «Clan des Präsidenten» bezeichnet, arabisch «Al Issaba». Seine Klientel rekrutierte sich auch aus den Magnaten der algerischen Neureichen, die ihm gefügig waren.

Als Bouteflika schwer krank wurde, konnte sich der Machtblock nicht auf einen Nachfolger einigen. Trotz seines desolaten Gesundheitszustands erschien ihnen Bouteflika immer noch als einzige Kontinuitäts- und Konsensfigur, aber das Volk sagte deutlich Nein.

Die Rolle der Armee

Nach der siebten Freitagsdemonstration ist Bouteflika zurückgetreten. Die politisch herrschende Clique versucht nun mit Hilfe der Armeespitze, sich der Entwicklung anzupassen, vor allem versucht sie, die Bewegung mittels einer Mischung aus Fake News und Einschüchterungen zu spalten. Sie hat eine Übergangsregierung ernannt und hält sich an §102 der Verfassung, der den Übergang bis zu den Neuwahlen regelt.

Auf den Freitagsdemonstrationen vom 5. und 12.April wurde diese Übergangsregierung von den Demonstranten massiv desavouiert. Sie verlangen, dass auch die nominierten Verantwortlichen in der Nationalversammlung und der aktuelle Ministerpräsident Bedoui abdanken. Die Frage, die die Linke und die kritische Öffentlichkeit und auch die Mehrheit des algerischen Volkes heute bewegt ist: Wie wird sich die Spitze der Armee verhalten? Wird die Sache nach ägyptischem, tunesischem oder portugiesischem Szenario verlaufen? In seiner letzten Rede (10.April 2019) warnte der «starke Mann des Regimes», General Gaid Salah, die Demonstranten und beklagt ihre «unrealistischen Erwartungen». Dabei berief er sich ironischerweise auf die Verfassung, die er stets mit den Füßen getreten hat. Soll heißen: Er unterstützt die verhasste Übergangsregierung, was der Verteidigung des Status quo gleichkommt.

Die Seite der Bewegung

Bei der gegenwärtigen  Lage, wo noch keine markanten politischen Vertreter der Straße hervorgetreten sind und Doppelmachtorgane fehlen, wird der Regime-Armee-Komplex handlungsfähig bleiben. Schon jetzt versucht das bestehende System mit Eifer, die Bewegung mit Zuckerbrot und Peitsche, partielle Konzessionen und Repressionen, in Schach zu halten.

Die Linke plädiert in ihrer großen Mehrheit für eine Konstituierende Versammlung und eine entsprechende Übergangsphase – ohne Beteiligung von Personen aus der aktuellen Herrscherclique.

Die politischen Kräfte der algerischen Linken – die linkssozialdemokratische FFS, die lambertistische PT [2] und die PST (Mitglied der IV. Internationale) – sind noch zu schwach und zersplittert, um eine politische Alternative zu bilden und durchzusetzen. An der Basis der Bewegung bilden sich zwar Keime von Selbstorganisation (bei Studierenden, Lehrern, Künstlern…), aber sie sind noch fragil und verstreut. Sehr aktiv sind die Frauenorganisationen, und auch Richter, Anwälte, Ärzte auf der Straße, was einmalig ist und die Bewegung bereichert, aber auch sie gestalten keine ausreichende Alternative zum Regime und bleiben defensiv. Es ist auch nicht absehbar, wann die organisierten und nicht organisierten Lohnabhängigen durch Generalstreiks und Betriebsbesetzungen ihre Kraft in die Waagschale werfen. Leider leidet die größte algerische Gewerkschaft UGTA noch unter einer sehr konservativ-bürokratischen Leitung, im Apparat kriselt es aber mächtig.

Die Linke plädiert in ihrer großen Mehrheit für eine Konstituierende Versammlung und eine entsprechende Übergangsphase – ohne Beteiligung von Personen aus der aktuellen Herrscherclique. Die PST tritt darüber hinaus für einen Generalstreik ein.

In den nächsten Wochen wird es weitere gewaltige Mobilisierungen geben. Da die Wurzeln des Regimes noch unangetastet sind, wird sein möglicher Sturz davon abhängen, wie sich die organisierte Arbeiterschaft verhält (Beispiel Tunesien) und ob die Mobilisierung ihren Druck aufrechterhalten oder gar verstärken kann.


[1] Michel Raptis, genannt Pablo (1911–1996), war ein führender griechischer Trotzkist. Mohamed Harbi (geb. 1933), war ein linker Historiker und Revolutionär.
[2] Eine sektiererische und degenerierte Strömung des Trotzkismus, die auf Pierre Lambert in Frankreich zurückgeht.

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