Die Bewegung der „Gelben Westen“ reisst nicht ab. Das dritte Wochenende in Folge haben am 1. Dezember Zehntausende Menschen in Frankreich gegen die Erhöhung der Treibstoffsteuer demonstriert, das französische Innenministerium zählte 136’000 Demonstrierende im ganzen Land. Auch nach diesem Wochenende nimmt so der Druck auf den Präsidenten Emmanuel Macron deutlich zu und aus Polizeikreisen ist nun auch die Forderung nach der Ausrufung des Notstandes zu vernehmen. Während 80% der Bevölkerung die Anliegen der Bewegung unterstützten, tun sich linke Parteien und Gewerkschaften immer noch sehr schwer damit. Dieser Artikel nennt einige Forderungen der „Gelben Westen“ und zeigt, wie eine antikapitalistische Linke damit umgehen sollte. (Red. 6. Dezember 2018)

von Robert Duguet; aus alencontre.org, 2. Dezember 2018, deutsche Fassung von sozialismus.ch, 3. Dezember

Als soziale Bewegung, die von mehr als 80% der französischen Bevöllkerung unterstützt wird, kehren die „Gelben Westen“ zur Methode des „cahier de doléances“ zurück. Ein solches „Beschwerdebuch“ oder auch Forderungskatalog stellte ein wichtiges vorbereitendes politisches Instrument für die Revolution von 1789 und die Auflösung der durch göttliches Recht legitimierten Monarchie dar. Einige offizielle Vertreter der Arbeiterbewegung dieses Landes, von Parteien oder Gewerkschaften, wollen in der Bewegung nur Elemente der extremen Rechten sehen, wie beispielsweise des Rassemblement National von Marine Le Pen oder der Souveränisten von Dupont Aignan. Diese versuchen in der Tat den sozialen Bestrebungen der Bewegung eine populistische Politik aufzupfropfen.

Gestern hörte ich im Radio die Aussage eines Bauern über seine materielle Situation; er erklärte, dass er bis zu 80 Stunden pro Woche arbeite, ohne dass er und seine Familie davon leben könnten. Diesen November mache seine eigene Mutter sogar, die im Ruhestand sei, die Einkäufe für den Haushalt. Wie viele dieser Männer und Frauen, die eine gelbe Weste tragen, befinden sich jetzt in einer derart erniedrigenden Situation?

Die Arbeiterbewegung muss die Bewegung unterstützen

Wenn wir uns den Forderungskatalog anschauen, so fällt gelegentlich dessen widersprüchlicher Charakter auf: Ein Volk, das die gewerkschaftlichen Aktionstage und die aufeinanderfolgenden Niederlagen seit 1995 [Bewegung gegen Einsparungen bei Renten und Sozialhilfe] leid ist, ist mit all seinen Illusionen sowie ideologischen und organisatorischen Schwächen in Bewegung getreten. Zudem könne die offizielle Arbeiterbewegung nicht mehr zur Ausbildung eines Klassenbewusstseins beitragen.

In einer solchen Situation, können – um das Bild von Antonio Gramsci zu übernehmen –neue Monster auftauchen, wenn die Arbeiterbewegung nicht die Initiative ergreift. Ihr Platz ist in der Begleitung der Bewegung der Gelben Westen und der Konvergenz. Dies scheint mir der einzuschlagende Weg zu sein.

Wie wir eine solche Bewegung nicht verstehen dürfen

Leider scheint es, dass einige linke Strömungen von einer Kurzsichtigkeit betroffen sind, die an Dummheit grenzt. So charakterisierte die Tribune des Travailleurs, eine Zeitung der POID [Parti Ouvrier Indépendant Démocratique, eine „lambertistische“ Fraktion des Trotzkismus], die Bewegung der Gelben Westen als allgemein von den Faschisten manipuliert. Der Hauptanführer dieser Partei, Daniel Glückstein, schrieb: „Unter der gelben Weste bleibt der Arbeiter ein Arbeiter, und der Chef ein Chef. Ganz zu schweigen von denen, deren braune Hemden unter den gelben Weste hervorragen….“ Und er fügt in einer Anmerkung hinzu: „Uniform der SA, Kampftruppen der Hitlerpartei in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren“. Hier wird die überwiegende Mehrheit der Gelben Westen, wenn wir der Logik des Editorials folgen, in Sturmtruppen von Ernest Röhm verwandelt [Ernst Röhm war Führer der Sturmabteilung (SA) und wurde im Juli 1934 nach der Auflösung der SA Ende Juni 1934 durch Hitlers Beschluss im Gefängnis hingerichtet]. Es folgt eine ganze Seite mit individuellen Zeugnissen, die in der lokalen Presse gesammelt wurden (was für Quellen!) und rassistische und antisemitische Kommentare oder Aktionen anführen.

Nehmen Sie eine Demonstration der CGT oder des FO [zwei französische Gewerkschaften] und befragen Sie einzelne Teilnehmer*innen: Es wird sicherlich einige geben, die Ihnen sagen werden, dass sie ihre Wohnungsnachbarn nicht mehr dulden können, weil sie ihre Merguez am Sonntagmorgen auf der Terrasse grillieren und dabei zu laut arabische Musik hören. Diese Darstellung ist nicht nur nicht ernst zu nehmen, sie spiegelt auch eine Richtung wider, die wenig mit dem Trotzkismus zu tun hat.
Fügen wir weiteres Zitat von 1916 hinzu, einem Jahr vor der großen Russischen Revolution. Hier spricht Lenin: „….. wer auf eine reine soziale Revolution wartet, wird nie lange genug leben, um sie zu erleben. Er ist nur ein Revolutionär in Worten, der nichts davon versteht, was eine wahre Revolution ist. Die sozialistische Revolution in Europa kann nur die Explosion des Massenkampfes der Unterdrückten und Verärgerten aller Art sein. Elemente der Kleinbourgeoisie und rückständige Arbeiter werden unweigerlich daran teilnehmen. Ohne deren Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, eine Revolution nicht möglich. Und ebenso unvermeidlich werden sie ihre Vorurteile, ihre reaktionären Fantasien, ihre Schwächen und Fehler in die Bewegung einbringen. Aber objektiv werden sie das Kapital angreifen, und die bewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit einer disparaten, disharmonischen, bunten und auf den ersten Blick eines Massenkampfs ohne Einheit zum Ausdruck bringen wird, wird in der Lage sein, es zu vereinen und zu leiten, die Macht zu erobern, die Banken zu erobern, Trusts zu enteignen, die von allen gehasst werden, wenn auch aus verschiedenen Gründen, und andere Maßnahmen durchführen, die alle zum Sturz der Bourgeoisie und zum Sieg des Sozialismus führen werden….“

Forderungen

Wie weit wird diese Bewegung gehen? Niemand weiss es im Moment.
Das Jahr 1788 war das Jahr der „Cahiers de Doléances“, einer Bewegung eines Volkes, das von einer wirtschaftlichen und sozialen Krise niedergedrückt wurde; einer Bewegung, die zur Verfassungsgebenden Versammlung führte; einer Bewegung, durch die das souveräne Volk den Rahmen des Sozialpakts selbst neu definierte. Darauf folgten die Arbeiter von 1848, die Pariser Kommune, die Volksfront, die „Libération“ [die Befreiung von der deutschen Herrschaft] und 1968. Die sozialen Bestrebungen der Grossen Revolution, die aufgrund des Sieges der Besitzenden noch nicht eingelöst sind, leben in unserem kollektiven Bewusstsein fort. Sind wir nun in diesem Moment des Bruchs?
Am Donnerstag, den 29. November 2018, schickte die Bewegung eine Pressemitteilung an die Medien und Abgeordneten mit rund 40 Forderungen. Die Forderungen der Gelben Westen gehen nun offiziell über die Frage der Treibstoffpreise hinaus. In einer langen Erklärung listet die Delegation der Bewegung eine Reihe von Forderungen auf, die sie gerne umgesetzt hätte.

„Abgeordnete Frankreichs, wir teilen Ihnen die Richtlinien des Volkes mit, damit Sie sie in nationales Recht umsetzen können. Gehorcht dem Willen des Volkes. Erzwingen Sie die Umsetzung dieser Richtlinien“, schreiben die Gelben Westen.

Die Sprecher der Delegation sollen am 30. November 2018 um 14.00 Uhr bei Premierminister Edouard Philippe und dem Minister für den ökologischen Wandel, François de Rugy, empfangen werden. Zwei Vertreter der Gelben Westen trafen sich mit Regierungsvertretern. Einer, Jason Hebert, sagte: “Ich habe wiederholt darum gebeten, dieses Interview zu filmen und live im Fernsehen zu übertragen, es wurde abgelehnt.“ Er verliess deshalb nach einigen Minuten den „Dialog der Gehörlosen“. Weder Herr Herbert noch das Innenministerium gaben die Identität der Gelben Weste bekannt, die mehr als eine Stunde bei Edouard Philippe und dem Minister für ökologischen Wandel blieb.

Die Forderungsliste

Nachfolgend eine nicht abschließende Liste von Forderungen, wie sie Robert Duguet am 30. November zusammenstellte:

– Keine Obdachlosen.

– Mehr Progressivität bei der Einkommensteuer, d.h. mehr Abstufungen.

– SMIC [Mindestlöhne] bei 1’300 Euro netto pro Monat.

– Förderung von Kleinunternehmen in Dörfern und Stadtzentren. Stopp der Errichtung großer Gewerbegebiete in der Nähe von Großstädten, die kleine Unternehmen töten und mehr kostenlose Parkplätze in den Innenstädten.

– Umfassender Plan zur Wohnungsisolierung, in einer Kombination von ökologischen Zielsetzungen und Sparmöglichkeiten für die Haushalte.

– Dass die Grossen, Mac Donald’s, Google, Amazon und Carrefour, viele Steuern zahlen und kleine Handwerker wenig.

– Gleiches Sozialversicherungssystem für alle, einschliesslich Handwerker und Kleinunternehmer. Ende des Sozialversicherungssystems für Selbständige (RSI).

– Das Rentensystem muss solidarisch und damit sozialisiert bleiben. Kein Punktesystem.

– Keine Erhöhung der Treibstoffsteuer.

– Keine Rente unter 1’200 Euro.

– Jeder gewählte Vertreter hat Anspruch auf das Mediangehalt. Seine Transportkosten werden kontrolliert und bei entsprechender Begründung erstattet. Anspruch auf ein Essensticket und einen Urlaubsgutschein.

– Die Gehälter aller Franzosen sowie die Renten und Zulagen müssen an die Inflation angepasst werden.

– Schutz der französischen Industrie. Verlagerungen verbieten. Der Schutz unserer Industrie bedeutet den Schutz unseres Know-hows und unserer Arbeitsplätze.

– Ende der entsandten Arbeit. Es ist nicht normal, dass eine in Frankreich arbeitende Person nicht das gleiche Gehalt und die gleichen Rechte erhält. Jeder, der auf französischem Gebiet arbeiten darf, muss einem französischen Staatsbürger gleichgestellt sein, und sein Unternehmer muss genauso wie ein französischer Unternehmer in unser Sozialsystem einzahlen.

– Zur Sicherung der Arbeitsplätze sollte die Anzahl der befristeten Arbeitsverträge für Grossunternehmen weiter begrenzt werden. Wir wollen mehr unbefristete Arbeitsverträge.

– Ende der Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE). Verwendung dieses Geldes zur Gründung einer französischen Wasserstoff-Autoindustrie, die im Gegensatz zum Elektroauto wirklich ökologisch ist.

– Ende der Sparpolitik. Wir hören auf, Zinsen für die Schulden zu zahlen, die als illegitim erklärt werden, und wir beginnen, die Schulden zu tilgen, ohne das Geld der Armen und weniger Armen zunehmen, sondern indem wir die 80 Milliarden Euro an Steuerhinterziehung einziehen.

– Dass die Ursachen der erzwungenen Migration angegangen werden.

– Dass Asylbewerber gut behandelt werden. Wir schulden ihnen Unterkunft, Sicherheit, Nahrung und Bildung für Minderjährige. Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen (UN), um sicherzustellen, dass in vielen Ländern der Welt Auffanglager eröffnet werden, bis der Asylantrag abgeschlossen ist.

– Die abgelehnten Asylbewerber werden in ihr Herkunftsland zurückgeschickt.

– Dass eine echte Integrationspolitik umgesetzt wird. In Frankreich zu leben bedeutet, Franzose zu werden, Französisch-Sprachkurse, Französisch-Geschichtskurse und Staatsbürgerkundekurse mit einer Zertifizierung am Ende des Kurses.

– Das maximale Gehalt beträgt fünfzehntausend Euro pro Monat.

– Schaffung von Arbeitsplätzen für Arbeitslose.

– Erhöhung der Zulagen für Behinderte.

– Begrenzung der Mieten. Erschwinglichere Wohnungen, insbesondere für Studenten und prekäre Lohnabhängige.

– Verbot des Verkaufs von Immobilien, Dämmen und Flughäfen in französischem Staatsbesitz.

– Erhebliche Mittel für Justiz, Polizei, Gendarmerie und Armee. Die Überstunden der Ordnungskräfte sollen bezahlt oder kompensiert werden.

– Alle Einnahmen aus der Autobahnmaut werden für den Unterhalt der französischen Autobahnen und Straßen sowie für die Verkehrssicherheit verwendet.

– Da die Preise für Gas und Strom seit der Privatisierung gestiegen sind, wollen wir, dass sie wieder öffentlich werden und die Preise deutlich sinken.

– Sofortiges Ende der Schließung kleiner Eisenbahnlinien, Postämter, Schulen und Geburtskliniken.

– Lasst uns das Wohlbefinden unserer älteren Menschen fördern. Verbot, mit älteren Menschen Geld zu verdienen. Das weiße Gold ist vorbei. Die Ära des grauen Wohlbefindens beginnt.

– Maximal fünfundzwanzig Schüler pro Klasse vom Kindergarten bis zur Oberstufe.

– Erhebliche Ressourcen für die Psychiatrie aufwenden.

– Das Volksreferendum muss in die Verfassung aufgenommen werden. Schaffung einer lesbaren und effektiven Website, die von einem unabhängigen Kontrollorgan überwacht wird, bei dem die Bürger Gesetzesvorschläge unterbreiten können. Wenn ein Gesetz 700’000 Unterschriften erhält, muss dieser Gesetzesentwurf von der Nationalversammlung diskutiert, ergänzt und verbessert werden; diese ist verpflichtet, ihn ein Jahr nach Eingang der siebenhunderttausend Unterschriften dem französischen Volk zur Abstimmungvorzulegen.

– Rückkehr zu einer siebenjährigen Amtszeit des Präsidenten der Republik. Die Wahl der Abgeordneten zwei Jahre nach der Wahl des Präsidenten der Republik ermöglicht es, dem Präsidenten der Republik ein positives oder negatives Signal für seine Politik zu geben. Dies würde also dazu beitragen, der Stimme der Menschen Gehör zu verschaffen.

– Pensionierung im Alter von 60 Jahren und für alle Personen, die in einem körperabnutzenden Beruf wie Maurer gearbeitet haben, Anspruch auf Pensionierung im Alter von 55 Jahren.

– Für sechsjährige Kinder, die nicht zur Schule gehen können, Fortsetzung des PAJEMPLOI-Assistenzsystems, bis zur Vollendung des zehnten Altersjahres.

– Förderung des Güterverkehrs auf der Schiene.

– Keine Quellensteuer.

– Ende der lebenslangen Zulagen für die Präsidenten.

– Verbot, Händler dazu zu bringen, eine Steuer zu zahlen, wenn ihre Kunden die Kreditkarte verwenden. Steuer auf Schiffsheizöl und Kerosin.

Übersetzt von der Webseite maulwuerfe.ch. Leichte Überarbeitung durch die Redaktion von sozialismus.ch.

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