Die etablierten Medien fokussieren sich bei der Berichterstattung über den Einfluss der Corona-Krise auf die Vereinigten Staaten nur allzu oft auf Trump. Neben der Plattform, die man der narzisstischen und im Umgang mit sozialen Medien erfolgreichen amerikanischen Exekutive dadurch bietet, wird natürlich auch viel bereichernde Kritik geäussert. Und doch kann man die Situation auch einmal von der anderen Seite der bürgerlichen Gesellschaft sehen und die Arbeiter*innen als Akteur*innen ihres Schicksals, und nicht nur als blosse Objekte klassenfeindlicher Politik von oben, betrachten. Die amerikanische Arbeiter*innenschaft organisiert sich nämlich eigenständig gegen die besitzende Klasse und ihre reformistischen Handlanger. In den Vereinigten Staaten nimmt der Klassenkampf zuweilen einen ganz eigenen Charakter an. Vielerorts kommt es zu wilden Streiks, wenn die Arbeiter*innenschaft in eigener Initiative und ohne Impetus aus den Gewerkschaften die ausbeuterischen Chef*innen um die eigene Arbeitskraft prellt und somit um die Ressource bürgerlicher Ausbeutung bringt. (Red.)

von Dan la Botz
aus redflag.org.au, übersetzt von sozialismus.ch

Ein wilder Streik geht um in Amerika

Quer durch die Vereinigten Staaten sehen wir gerade, wie Arbeiter*innen ihren Arbeitsplatz in wilden Streiks verlassen. Damit reagieren sie auf das Versagen der Unternehmen, den Arbeitsplatz entweder zu schliessen oder sicherer zu gestalten. Zwar sind es zu wenige Streiks, um gleich von einer Streikwelle sprechen zu können. Dennoch sollte uns dabei bewusst sein, dass hier Arbeiter*innen in Eigeninitiative praktisch ihre mächtigste Waffe zücken: den Entzug ihrer Arbeitskraft. Die Streiks finden sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor, sowohl an gewerkschaftlich organisierten wie an nicht-organisierten Arbeitsplätzen, sowohl in kleinen wie in grossen Betrieben statt. 

Seit 150 Jahren streiken Arbeiter*innen schon in unzähligen Industrien für Sicherheit und Gesundheit. Am denkwürdigsten dürfte hier wohl der sogenannte «strike over black lung» der Bergarbeiter*innen (dt. Streik wegen der Staublunge Anm. d. Red) 1969 gewesen sein. Trotzdem dürften wir bisher nichts Vergleichbares gesehen haben: Als Reaktion auf eine Epidemie entzündeten sich wilde Streiks für Gesundheit und Sicherheit, in welchen Arbeiter*innen gewichtige Forderungen an die Unternehmer*innen stellten; manchmal gar erfolgreich. Und diese Streiks finden inmitten der ignoranten und manchmal betrügerischen Stellungnahmen von Politikern und des Versagens der Regierung auf allen Ebenen statt. Folglich lässt sich getrost behaupten, dass diese Streiks – selbst wenn sie sich lediglich an die jeweiligen Unternehmer*innen richten mögen – nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen politischen Charakter besitzen.

Wir werden gerade Zeug*innen davon, wie solche Streiks gleich in einer Vielzahl von Industriezweigen mehrerer Bundesstaaten aufflammen. 

Überall entflammen spontane und wilde Streiks

Noch in den Iden dieses Märzes legten Arbeiter*innen wegen fehlender Sicherheit am Arbeitsplatz im Fiat-Chrysler’s Sterling Heights Montagewerk in Michigan ihre Arbeit nieder. Im selben wilden Geiste verliessen auch Arbeiter*innen ihre Posten am Fiat-Chrysler’s Windsor Montagewerk in Ontario und zwangen so die drei grossen Automobilhersteller (Ford, GM und Fiat-Chrysler), ihre Betriebe zu schliessen.

Nachdem die Ehefrau eines Pittsburgher Müllmanns positive auf Sars-CoV-2 getestet worden war und der besagte Müllmann unter Quarantäne gestellt wurde, beendeten die Müllmänner Pittsburghs am 25. März in Solidarität und mit der Forderung nach Masken, besseren Handschuhen und einem zweiten Paar Stiefel ihre Arbeit, parkten ihre Lastwagen und blockierten die Eingänge zu ihrem Arbeitsplatz. Die Gewerkschaft stritt jedoch ab, dass sich ein Streik ereignet hätte, und erklärte den Ausstand der Arbeiter*innen mit einem Missverständnis. 

Arbeiter*innen der Purdue Hähnchenverarbeitungsanlage in Kathleen (Georgia) verliessen ihren Arbeitsplatz am 23. März und forderten, dass die Anlage keimfrei gemacht würde. «We’re not getting nothing – no type of compensation, no nothing, not even no cleanliness, no extra pay – no nothing. We’re up here risking our life for chicken»[1],sagte Kendaliyn Granvilles 

An der  General Dynamics’ Bath Iron Works Werft am Fluss Kennebec in Bath (Maine) weigerten sich am 24. März die Hälfte der 6800 Arbeiter*innen, zur Arbeit zu erscheinen, nachdem die Firma offengelegt hatte, dass eine Arbeiter*in positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden war. Es bleibt unklar, ob die Gewerkschaft die Arbeitsniederlegung mitorganisiert hatte. Allerdings hat die Gewerkschaft zumindest erreicht, dass die Arbeiter*innen mit Bezahlung nachhause gehen durften. 

Eine Gruppe mehrheitlich afroamerikanischer Arbeiter*innen, Mitglieder der Teamsters Local 667-Gewerkschaft, traten am 27.März in einen wilden Streik im Kroger Lebensmittellager in Memphis, nachdem ein Mitarbeiter positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden war. «We really in a hazardous situation and we scared,»[2] teilte der Gabelstapelfahrer Maurice Wiggins der Presse mit und fuhr fort: «Half the workers have gone home. They scared for their safety. The ones that is here, they so tense they scared to touch the equipment.»[3]

Am 30. März haben im Amazon Warenlager in Staten Island rund 100 Beschäftigte von insgesamt 2500 ihren Arbeitsplatz verlassen, nachdem ein Arbeitskollege positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden war. Sie forderten die Firma auf, die Anlage zu säubern und sie sicher zu machen. 

Und offenbar ist kein Arbeitsplatz zu klein für einen Streik oder ein Sit-In. Das bewies sich am 21. März in der Crush Bar und dem damit verbundenen Woody’s Cafe and Tavern in Portland (Oregon), als sich 12 Arbeiter*innen aus Protest gegen die Entlassung der gesamten Belegschaft von 27 Angestellten weigerten, die Räumlichkeiten zu verlassen. Auf die Frage, weswegen sie auf ein Sit-In setzten, anstatt Lohnzahlungsforderungen über den juristischen Weg durchzusetzen, entgegnete Hannah Gioia: «We do not predict that we can wait out a government agency’s abilities to process this charge. We need resources now. Getting laid off is already devastating, but during a public health crisis it’s catastrophic. We are out of options, and we expect this owner to do what is legally required and what is right by us.»[4]

Sicherlich gibt es weitere solcher Streiks und Sit-Ins, die leider kein Gehör von der Presse gefunden haben. Und wir wissen auch, dass es viele weitere Proteste von verschiedensten Arbeiter*innen, insbesondere unter Lehrpersonen und Krankenpfleger*innen gibt, die wir aber, so wichtig sie auch sein mögen, in diese Diskussion nicht miteinbezogen haben. Denn der wilde Streik nimmt sowohl in der Geschichte und der Theorie der Arbeiter*innenbewegung als auch ganz akut als Reaktion gegen die Chef*innen und die Regierungen im Zuge der Corona-Pandemie einen gesonderten Platz ein.

Proletarisches Aufbegehren der amerikanischen Lohnabhängigen

Es ist bezeichnend, wie diese Streiks einerseits von hochbezahlten Facharbeiter*innen wie etwa an der General Dynamics’ Bath Werft sowie von Arbeiter*innen aus dem Niedriglohnsektor wie beispielsweise in der Purdue Hähnchenverarbeitungsanlage oder in Bars und Restaurants in Oregon getragen werden. Man kann dafür plädieren, dass schwarze Arbeiter*innen – Pittsburgh Sanitation, Kathleen, Georgia, Purdue Chick und Memphis Teamsters – eine führende Rolle bei den Streiks spielen. 

Dagegen wäre allerdings einzuwenden, dass die Arbeiter*innen der Bath Werft wiederum überwiegend weiss waren, während sich die Arbeiter*innenschaft der Autoindustrie aus schwarzen, arabischstämmigen, weissen und Latinoamerikaner*innen zusammensetzte. Dasselbe war auch für die Düsenmotorenwerkanlage von General Electric in Lynn der Fall. Und zweifellos fanden sich auch Arbeiter*innen aller Geschlechter in diesen Protesten zusammen. Und wir hören, dass Frauen wie Männer den Arbeiterbelangen ihre Stimme liehen. Des Weiteren ging es bei den gegenwärtigen Streiks natürlich zunächst um gesundheitsbezogene Forderungen, und doch macht sich bereits eine gewisse Tendenz hin zur Ausweitung auf weitere Belange wie Lohnerhöhung, Versicherung, allgemeine Arbeitsbedingungen und Anstellungssicherheit bemerkbar.  

Wider die Gewerkschaftsbürokratien und die Romantisierung von wilden Streiks

Was nun aber an den genannten Aktionen am bemerkenswertesten ist, war die Rolle der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben zu keinem der Streiks aufgerufen. In manchen Fällen waren Gewerkschaften im Kampf gegen die Firma überhaupt nicht mal involviert. Und in der Automobilindustrie musste die Arbeiter*innenschaft sogar gegen die Gewerkschaft streiken. In einigen Fällen wie demjenigen der Bath Werft scheint die Gewerkschaft die Arbeitsniederlegung zumindest stillschweigend unterstützt zu haben. Obwohl dies nicht mit Sicherheit gesagt werden kann.

Man muss nämlich wissen, dass solche inoffiziellen Streiks vielfach gegen die Streikverbotsbestimmungen, auf welche sich die Gewerkschaften vertraglich verpflichtet haben, verstossen. Und hinsichtlich der Angestellten des öffentlichen Dienstes können solche Arbeitsverweigerungen sogar gegen das Gesetz verstossen. Und doch haben Arbeiter*innen sich selbst organisiert, um mit den wenigen Ressourcen, welche ihnen über die sozialen Medien und die traditionelle Mundpropaganda hinaus zur Verfügung standen, wilde Streiks auszutragen: um ihre Gesundheit zu schützen und ihre Jobs retten!  

Wilde Streiks kann man aus zwei verschiedenen Warten betrachten. Auf der einen Seite brechen wilde Streiks für gewöhnlich entweder aus, weil es keine Gewerkschaft gibt, oder, weil deren Leader*innen darin versagt haben, eine geeignete Anführung im Kampf gegen die Chef*in anzubieten. Auf der anderen Seite haben gewisse Linke wilde Streiks auch zum authentischen Ausdruck des direkten Arbeiter*innenwillens, zu einer Art spontanen Geburt des Widerstands gegen die Chef*in romantisiert. Manche sehen wilde Streiks gar als Vorboten des Generalstreiks, der den Kapitalismus umstürzen und die Arbeiter*innenschaft an die Macht bringen wird. 

Zur selben Zeit wird man anerkennen müssen, dass die Arbeiter*innen einfach in wilde Streiks treten mussten, weil sie über keine Kontrolle und Einflussmöglichkeiten in der eigenen Gewerkschaft verfügten und die Gewerkschaften entsprechend nicht zum Ausdruck der eigenen Macht nutzen konnten. So ist der wilde Streik ebenso Ausdruck der unmittelbaren Arbeiter*innenmacht in der Sphäre der Produktion wie ein Nachweis des Versagens seitens der Arbeiter*innenschaft, weil sie es aufgrund der Macht der Chef*innen und der Gewerkschaftsbürokratie nicht geschafft hatte, eine demokratisch kontrollierte Gewerkschaft aufzubauen.

Wenn Arbeiter*innen dies aber in der Vergangenheit, spätestens in Zeiten sozialer Umwälzung, erkannt hatten, haben sie oftmals versucht, die Macht in den Gewerkschaften an sich zu reissen, um sie zu ihren eigenen Kampforganisationen umzuformen. In diesem Rahmen können wilde Streiks tatsächlich zu einem Quell der Energie werden, welcher Basisbewegungen befeuert. Wie es über ein Jahrhundert lang für die Schwerindustrie der Fall war und immerhin während 75 Jahren für die Angestellten des öffentlichen Dienstes. Der gewaltige Fortschritt der amerikanischen Arbeiter*innen in den 1930ern, welcher zu nichts Geringerem als zur Gründung des Gewerkschaftsbundes für ungelernte Industriearbeiter*innen Congress to Industrial Organizations (CIO) und zur enormen Ausdehnung der American Federation of Labor (AFL) als einem der ältesten Facharbeiter*innengewerkschaftsbünde führte, rührte im Wesentlichen von eben solchen wilden Streiks in Gummiwerken, in der Automobilindustrie, unter den Elektroarbeiter*innen und vielen anderen her. 

Arbeiter*innen verliessen den Arbeitsplatz zu Tausenden, einige besetzten ihre Betriebe, wiederum andere errichteten Massenstreikposten und wehrten die Streikbrecher*innen und Polizist*innen ab. Während der Depression der 1930er Jahre verbreiteten sich wilde Streiks wie ein Virus über die Vereinigten Staaten und zogen kleine Industriegeschäfte und Angestellte des Einzelhandels an. Etwas Ähnliches ereignete sich in den 1960ern und 1970ern mit Lehrkräften und Angestellten des öffentlichen Dienstes, welche ihre Arbeit niederlegten, um eigene Gewerkschaften gründen zu können. Zu guter Letzt transformierten Basiserhebungen auch die Gewerkschaft United Mine Workers (UMW), welche vor allem für die Vertretung der Interessen der Kohlenarbeiter*innen bekannt ist, und rüttelten die UMW grundlegend auf.

We have nothing less to win but our own unions

Der Corona-Virus wird wahrscheinlich eine zweite grosse Depression (nach derjenigen der 1930er Jahre) einleiten. Er führt bereits jetzt geradewegs in die Rezession und beschleunigt damit Widersprüche in der Gesellschaft, indem er Konflikte verursacht zwischen den Besitzenden, die dafür kämpfen, ihre Unternehmen und ihre Profite zu erhalten, und der Arbeiter*innenschaft, die für ihre Gesundheit und ihr Leben sowie für ihre Anstellung und ihren Lebensstandard kämpft. Es ist zu erwarten, dass die wilden Streiks weitergehen werden, sobald die “essential workers”[5], wie man sie ja gerne nennt, ihre Macht förmlich spüren können. Je mehr der Corona-Virus sich ausbreitet, wobei es sich erst um den Beginn der Pandemie in den Vereinigten Staaten handeln dürfte, und je mehr so die Tiefe der Wirtschaftskrise und ihrer langfristigen Folgen deutlich wird, umso mehr werden Streiks noch ungeahnte Formen annehmen. 

Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass eine Arbeitslosigkeit von bis zu 25% sich auch als Dämpfer auf soziales Aufbegehren auswirken könnte. Der historische Vergleich mit 1975 oder 1980 führt uns Erwerbslosigkeit sogar als Ursache des Verlangsamens oder des Stoppens des besagten Kampfes von Unten vor. Und dennoch, wenn wilde Streiks weitergehen und wachsen, könnten sie neue Basisbewegungen antreiben, die sich zur Ergreifung der Macht in den Gewerkschaften erheben und sie so zu Kampforganisationen der Arbeiter*innenklasse wandeln. Falls dies massenhaft passiert, werden wir eine neue Ära beschreiten, wo viele neue Möglichkeiten, allen voran die Möglichkeit zur unabhängigen politischen Aktion oder der Entstehung einer politischen Partei der Arbeiter*innenklasse, am Horizont aufflackern. 

Wir sollten solche Bewegungen von wilden Streiks also nicht aus den Augen lassen, sie unterstützen, hoffen, dass sie sich verbreiten und wachsen, ihnen unsere Solidarität anbieten und hoffen, dass sie zu Bewegungen werden, die die Gewerkschaften demokratisieren und in Organisationen des Klassenkampfes wandeln, die sowohl für wirtschaftliche wie für politische Macht kämpfen.

Übersetzung und Zwischentitel durch die Redaktion von sozialismus.ch


[1] Wir kriegen nichts – keine Form der Kompensation, gar nichts, noch nicht einmal Sauberkeit, keine zusätzliche Bezahlung. Dabei riskieren wir hier unser Leben für Hähnchen. 

[2] Wir befinden uns in einer wirklich bedrohlichen Situation und haben Angst.

[3] Die Hälfte der Arbeiter*innen ist nach Hause gegangen. Sie fürchtet um ihre Sicherheit. Diejenigen, die hier sind, sind so angespannt, dass sie Angst haben, das Equipment anzufassen. 

[4] Es ist nicht davon auszugehen, dass wir abwarten können, bis eine Behörde, so eine Anklage bearbeitet hat. Wir brauchen die Ressourcen genau jetzt. Entlassen zu werden ist bereits furchtbar genug. Aber während einer Krise der allgemeinen Gesundheit ist es katastrophal. Uns sind die Alternativen ausgegangen, und wir erwarten, dass der Inhaber tut, wozu er juristisch verpflichtet ist und was uns rechtens zusteht.

[5] Wörtlich «unverzichtbaren» oder «unabdingbaren Arbeiter*innen», für die blosse Instandhaltung oder das Weiterfunktionieren einer funktionierenden Gesellschaft unentbehrlich sind.  (Anm. d. Red)

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