Die neokonservative Regierung in Österreich stellt zahlreiche soziale Errungenschaften in Frage. Die ArbeiterInnenbewegung und die gesellschaftliche Opposition sind schwach. Das stellt alle, die für demokratische und solidarische Alternativen einstehen vor große Herausforderungen. Es gilt den Problemen der kapitalistischen Gesellschaft auf den Grund zu gehen und radikale, antikapitalistische Perspektiven zu erarbeiten. Das erfordert Hartnäckigkeit und Geduld. 

 

Verena Kreilinger und Christian Zeller
22. Dezember 2017

Ganzen Artikel als pdf-Datei lesen.

Die Nationalratswahl am 15. Oktober offenbarte das ernüchternde gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnis in Österreich. Auf der Grundlage einer langanhaltenden Hegemonie konservativer Kräfte vollzog sich ein weiterer Rechtrutsch. Entscheidender ist allerdings, dass die wesentlichen Fraktionen der herrschenden Klasse dieses Landes beschlossen haben, die sogenannte Sozialpartnerschaft und deren politische Verdichtung in Form der langjährigen SPÖ-ÖVP-Allianz aufzukündigen. Die SPÖ und die Grünen haben sich als unfähig erwiesen, auf diese neokonservative[1] Offensive mit eigenen Konzepten zu reagieren. Die klassische, auf eine Mitverwaltung des Staates und der kapitalistischen Gesellschaft ausgerichtete Regierungs“linke“ ist weitgehend orientierungslos und handlungsunfähig. Eine antikapitalistische Kraft existiert nicht in diesem Land.

Die neue Regierung wird das Kräfteverhältnis zu nutzen wissen und massive soziale Einschnitte und eine Veränderung der Arbeitsbeziehungen durchsetzen wollen. Auf dem Erbe der Integration und Degenerierung der klassischen ArbeiterInnenbewegung sowie der weitgehenden gesellschaftlichen Individualisierung ergeben sich grundlegende Herausforderungen für alle, die versuchen eine solidarische und demokratische oder gar antikapitalistische Alternative zu entwickeln. Erstens ist eine offene Debatte über die inhaltliche Orientierung dieser Kräfte jenseits der institutionellen Politik zu führen. Zweitens steht ein langwieriger Aufbau organisatorischer Kapazitäten, sozialer Zusammenhänge und deren politischer Ausdrucksformen an. Drittens gilt es kollektiv handlungs- und aktionsfähig werden.

Mit diesem Artikel wollen wir einen Betrag zur Orientierungsdiskussion in Zeiten einer konservativen Hegemonie leisten. Ansätze unserer Argumentation finden sich auch in unserer Antwort auf die Thesen der Mosaik-Redaktion.[2] [3] In dem vorliegenden Text schlagen wir einen breiteren Bogen und beziehen weitere Überlegungen ein. Wir wollen mit diesem Artikel zur Diskussion über die Widerstandsperspektiven gegen die neokonservative Regierung anregen und zugleich Vorschläge für den Aufbau einer antikapitalistischen Organisation vorlegen. Wir sind überzeugt, dass für die Entwicklung solcher Debatten viele kollektive Prozesse des Nachdenkens und Austausches erforderlich sind. Wir wollen mit diesem Beitrag auch den politischen Klärungsprozess vorantreiben und damit Menschen in Zusammenhängen wie Aufbruch, Jungen Grünen, KPÖ, verschiedenen sozialistischen Gruppen, Solidarwerkstatt, Personenkomitee EuroExit gegen Sozialabbau, Attac, feministischen Gruppierungen, Organisationen von MigrantInnen und Gewerkschaften ansprechen.

1. Der Rechtsrutsch ist umfassend – und Ergebnis einer Entwicklung von Jahrzehnten

Die Nationalratswahl hat auf institutioneller Ebene eine Verschiebung nach rechts sichtbar gemacht, die auf gesellschaftlicher Ebene in Österreich seit vielen Jahrzehnten manifest ist. In der Tat ist diese Verschiebung der institutionell-politischen Kräfteverhältnisse Ergebnis einer längeren Entwicklung in den Zentrumsländern Europas. Um die Dynamik zu verstehen, gilt es jedoch genauer hinzusehen. Gesellschaftlicher Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Erfindung der rechtspopulistischen Politik von Haider, Strache und nun Kurz, sondern tief verankert in der österreichischen Geschichte. Das Spiel mit rassistischen Ressentiments, nationalsozialistischen Zeichen und antisemitischen Codes ist allgegenwärtig. Dieser gesellschaftliche Rassismus zeigt sich vielfach entkoppelt vom Wahlverhalten. WählerInnen von SPÖ und ÖVP zeigen gleichermaßen ausgeprägte xenophobe, rassistische und antisemitische Einstellungen.[4] In Österreich gibt es strukturell eine konservative bis reaktionäre Mehrheit, die auch durch die SPÖ in den 1970er Jahren nicht gebrochen wurde. Diese Mehrheit brachte sich manchmal mehr oder weniger deutlich und weitgehend zum Ausdruck.

Verschiedentlich wird der Rechtsrutsch in Österreich vorrangig auf gesellschaftspolitischem Terrain namentlich in den Bereichen Rassismus/Fremdenfeindlichkeit, Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik diskutiert, so auch von der Mosaik-Redaktion und Aktiven in Aufbruch. Das ist wichtig, aber nicht ausreichend. Das Führungspersonal der herrschenden Klasse hat auf der institutionellen Ebene eine bedeutende wirtschaftspolitische Verschiebung nach rechts durchgesetzt. Diese Verschiebung zeigt sich in mehreren Prozessen:

Die neue ÖVP-Führungsriege um Kurz und die ihn stützenden Kräfte gehen in die Offensive. Sie wollen möglichst alle institutionellen Hürden aus dem Wege räumen, die der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der exportorientierten Schlüsselunternehmen noch im Wege stehen. Die Flexibilisierung der Arbeit, die Infragestellung der Kollektivverträge, die Schwächung der Arbeiterkammer sowie der Um- und Abbau der Sozialversicherungen sind Bestandteile eines kohärenten Programms.

Die FPÖ hat sich dieser neoliberalen und neokonservativen Offensive angeschlossen und drückt diese mit ihrem Wirtschaftsprogramm unmissverständlich aus. Ihre soziale Rhetorik hat sie hintenangestellt. Die neokonservative Strömung mit Haimbuchner & Co und dem nach 26 Jahren wieder zum Leben erweckten Atterseer Kreis scheint sich in dieser Hinsicht durchgesetzt zu haben. Die FPÖ hat sich mit der EU, namentlich ihrem liberalen Wirtschaftsregime und ihren autoritären Tendenzen, versöhnt. Im ihrem Wahlkampf waren kaum Anti-EU-Töne zu vernehmen. Zugleich üben weder die EU-Spitze noch die Regierungen in Europa Kritik an der Beteiligung der populistischen und reaktionären Rechten an der österreichischen Regierung. Die FPÖ ist nun integrierter Bestandteil des herrschenden Blocks. Mit dem Innenministerium und dem Militärministerium erlangt sie nun die Kontrolle über den Sicherheits- und Repressionsapparat einschließlich der Geheimdienste.

Die „neue ÖVP“ trennt programmatisch nur noch wenig von der rechtspopulistischen FPÖ, die auch von Rechtsextremen durchsetzt ist. Der fremdenfeindliche und rassistische Diskurs von ÖVP und FPÖ passt zu dieser Ausrichtung. Die Rhetorik von Kurz und Strache ist voll von Spaltungslinien: in Einheimische und Zugewanderte, in Junge und Alte, in gut Qualifizierte und LeistungsverweigerInnen, in WienerInnen und Nicht-WienerInnen, in Familien und Alleinstehende. „Ausländer“ kämen um sich soziale Leistungen zu erschleichen. Die ExponentInnen von ÖVP und FPÖ schüren systematisch die Mechanismen der Ausgrenzung und den Geist des Egoismus, um jede Vorstellung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Infrastruktur und Vorsorge zu unterminieren.

Weder die SPÖ noch die Gewerkschaften widersetzen sich konsequent dieser jede Solidarität zersetzenden Mechanik. Das wird sie nachhaltig weiter schwächen. Die SPÖ hat sich mit ihrem Plan A stärker neoliberalen Vorstellungen angenähert. Sie akzeptiert den kapitalistischen Standortwettbewerb und die mit ihm eingehenden sozialen Spaltungen. Sie erinnert in ihren Versuchen wieder Boden unter die Füße zu kriegen, bisweilen rhetorisch an die Reformpolitik Kreiskys. Doch für eine Korrektur zu einer sozialen Reformperspektive fehlen die aktiven Kräfte in der Partei.

Die Grünen äußern sich zwar gegen den Spaltungsdiskurs, allerdings ohne die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Gründe und Herrschaftsmechanismen anzusprechen. Sie haben wenig überraschend auch bei dieser Wahl nicht mit ihrer zunehmend wirtschaftsliberalen Ausrichtung gebrochen. Wenig deutet darauf hin, dass sie diesen Pfad verlassen werden.

Um das Kräfteverhältnis genauer zu bestimmen, dürfen wir nicht nur den gesellschaftlichen Vormarsch fremdenfeindlicher und rassistischer Vorstellungen betonen. Wir müssen die wirtschaftspolitische Einigkeit der Regierungsparteien auf eine wirtschaftsliberale Agenda erkennen, einen Konsens, den auch die SPÖ und die Grünen nicht wirklich angegriffen haben. Allerdings ist es fraglich, inwiefern breite Teile der Bevölkerung und sogar der FPÖ-WählerInnen wirtschaftsliberale Vorstellungen angenommen haben.[5] Breite WählerInnenschichten haben gegen ihre eigenen Interessen gestimmt, weil diese Agenda im Windschatten des lautstarken Anti-Ausländer-Diskurses Einzug hielt. Diesem Diskurs gilt es vehement entgegenzutreten, jedoch ist der Fokus auf die massive Verschärfung der sozialen Probleme zu richten, die mit der neokonservativen Politik einer kommenden Regierung eintreten werden. Damit lässt sich an der Skepsis in breiten Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung gegenüber wirtschaftsliberalen Konzepten anknüpfen.

Das Projekt der neokonservativen ÖVP-FPÖ Regierung ist umfassend. Es geht darum, im Schatten der deutschen Exportmaschinerie die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie substantiell zu verbessern. Das Bürgertum will ein wesentlich kapitalfreundlicheres Arbeitsregime durchsetzen. Das ist die Voraussetzung um im Wettstreit mit den Konkurrenten den unersättlichen Hunger nach Mehrwert zu stillen. Offensichtlich sind gewichtige Teile der Eliten dieses Landes zum Schluss gekommen, dass hierzu nun anderes Projekt, als jenes wofür die Regierungskoalition von 2006 bis 2017 stand, durchzusetzen ist. Grundlegende soziale und demokratische Errungenschaften, welche die ArbeiterInnenbewegung nach dem 2. Weltkrieg erreichen konnte, sind zu zerstören oder, eleganter, zur Unkenntlichkeit umzuformen. Die Sozialdemokratie soll ihre Integrationsleistung derzeit besser in der Opposition ausüben. Die Mechanismen der Sozialpartnerschaft scheinen nicht mehr als zweckmäßig erachtet zu werden.

2. SPÖ – Von der reformistischen Überwindung des Kapitalismus zu dessen Modernisierung

Die SPÖ erzielte zwar ein respektables Wahlresultat, welches jedoch den langfristigen Niedergang bestätigt. Die SPÖ verlor massiv Stimmen von enttäuschten ArbeiterInnen und Angestellten an die FPÖ. Zugleich gewann sie Stimmen relativ privilegierter Lohnabhängiger, vorwiegend AkademikerInnen, dazu, die vormals die Grünen gewählt haben.[6] Sie gewann diese Stimmen nicht aufgrund ihres Programms, sondern weil viele Angehörige „gebildete Schichten“ nun plötzlich Angst vor einem ungeschminkten Rechtskurs bekamen

Die Bewegung vieler ehemaliger WählerInnen der Grünen zur SPÖ ist jedoch kaum Ausdruck einer weiteren Rechtsverschiebung. Die Grünen stellten sich der neoliberalen und neokonservativen Offensive keineswegs konsequenter gegenüber als die SPÖ. Gemäß Analysen des Unternehmens Sora sollen neben ehemaligen 161.000 WählerInnen der Grünen, die nun die SPÖ vorgezogen haben, sogar 165.000 ins Lager von Kurz gewechselt haben. Das kann zwar als Rechtsrutsch gewertet werden, zeigt aber auch, wie fließend die Übergänge der Grünen ins konservative Lager sind.

Die verbreitete Wahl des „kleineren Übels“ ist nicht zuletzt Ausdruck des mangelnden Selbstvertrauens vieler Lohnabhängiger und der Feststellung, dass es seit Jahrzehnten keine Kraft gibt, die wirksam eine solidarische Politik vorschlägt. Gerade der Zerfall der grünen WählerInnenschaft offenbart, dass es die Grünen in ihrer 30-jährigen Existenz nicht geschafft oder nicht einmal versucht haben, sich gesellschaftlich zu verankern. Mangelndes Selbstvertrauen bedeutet auch mangelndes Vertrauen gegenüber politischer Organisierung und kollektiven Antworten.

Lange ist es her, als die Sozialdemokratie noch für eine reformistische Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsweise einstand. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die internationale Sozialdemokratie und damit auch die SPÖ mit dem Kapitalismus arrangiert. Die SPÖ profilierte sich als Partei sozialer Reformen, nicht um den Kapitalismus zu überwinden, sondern um breiten Teilen der österreichischen Lohnabhängigen die Lebensbedingungen zu verbessern und diese mit dem kapitalistischen System zu versöhnen. Die sozialpolitische Reformagenda der Kanzlerschaft von Bruno Kreisky 1970-83 stand für diese Vorstellungen des Wohlfahrtsstaats. Die neoliberale Wende seit den späten 1970er Jahren hinterließ zeitverzögert auch in Österreich ihre Spuren. Seit Mitte der 1980er Jahre, ausgeprägt seit der Übernahme der Kanzlerschaft und des SPÖ-Vorsitzes durch Franz Vranitzky 1986, verfolgte die SPÖ zunehmend eine Politik der sozialen Abfederung neoliberaler Konzepte. Sie betrieb zusammen mit der ÖVP die Durchsetzung einer sozialgefärbten Variante des Neoliberalismus, also einer Modernisierung der Kapitalherrschaft. Gleichzeitig trug die SPÖ aber Sorge, dass ihre Verbindungen zu den Gewerkschaften und die Strukturen der sogenannten Sozialpartnerschaft keinen Schaden erlitten.

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften haben eine große Mitverantwortung für die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Neoliberalen und Neokonservativen. Sowohl eine reformorientierte als auch eine antikapitalistische Linke kommt nicht darum, die desaströse Bilanz der Sozialdemokratie und der mit ihr verbundenen Gewerkschaften kritisch zu reflektieren, um wieder sicheren Grund unter die Füße zu kriegen. Wir führen hier fünf wichtige Punkte an, über deren Konsequenzen wir verstärkt nachdenken sollten:

  • Die SPÖ, wie die ganze Sozialdemokratie in Europa, hat sich bereits seit Jahrzehnten weitgehend dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit unterordnet und trug tendenziell nationalistische Standortdiskurse mit.
  • Die SPÖ und ihre Schwesterparteien in Europa hielten lange Zeit an der Verteidigung des Sozialstaates, ein Erbe vergangener Kämpfe und der glorreichen Phase des Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg, fest. Nachdem die Verteilungskämpfe aufgrund sinkender Produktivitätszuwächse härter wurden, verschrieben sie sich einem Modernisierungskurs im Dienste des exportorientierten Kapitals. Der britische Premierminister Blair und der deutsche Bundeskanzler Schröder trugen diese Orientierung Ende der 1990er Jahre auf die Spitze. Obgleich nicht so konsequent, ging die SPÖ einen ähnlichen Weg. Der im Januar 2017 mit großem Pomp vorgestellte Plan A war kein sozialdemokratisches Reformprogramm, sondern ein Modernisierungsprogramm, das die Interessen der exportorientierten Industrie sozial gestalten und einbetten wollte.
  • Das Führungspersonal der SPÖ hat sich in den Staatsapparat und im Management staatnaher Unternehmen integriert. Wer seine politische Praxis mit einer erfolgreichen Karriere im Staatsapparat, in der Arbeiterkammer oder als Manager eines „nahestehenden“ Unternehmens verbindet, wird kaum mehr bedingungslos für die Interessen der weniger privilegierten Lohnabhängigen einstehen. Die SPÖ hat die sozialen Bindungen in die Stadtteile, in den Gemeindewohnbau, in die Betriebe und zur ehemaligen gewerkschaftlichen Basis verloren. Die Parteiexponenten sind ein Teil der politischen Kaste. Sie unterscheiden sich darin kaum von den Spitzen der ÖVP und FPÖ. Es gilt zu überprüfen, inwiefern Teile der Sozialdemokratie sich mittlerweile zu einem Teil der herrschenden Klassen beziehungsweise ihrer Hilfstruppen assimiliert haben, nicht nur objektiv, sondern sich dieser auch selber zugehörig fühlen.
  • Die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften tragen eine umfassende Mitverantwortung für eine seit Jahrzehnten fremdenfeindliche und fragmentierende Arbeitsmarktpolitik. Die Gewerkschaften machen es sich zur Aufgabe, die österreichischen ArbeiterInnen und Angestellten in Konkurrenz zu eingewanderten Lohnabhängigen und zu jenen in anderen Ländern zu verteidigen. Nicht die Einheit und das gemeinsame Interesse aller Lohnabhängigen und Ausgebeuteten stehen im Vordergrund, sondern die kurzfristigen Anliegen derjenigen mit dem richtigen Pass.
  • Die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften entwickeln kaum ein Verständnis dafür, die ganze Klasse der Lohnabhängigen, also wirklich aller, die ihre Arbeitskraft mehr oder weniger prekär verkaufen müssen beziehungsweise vom Lohn ihrer PartnerInnen abhängig sind, zu verteidigen. Teilzeitarbeitende Frauen, Prekäre, Kleinstunternehmen bleiben vergessen.

Der Rechtsrutsch der SPÖ ist nicht einer ungünstigen Konstellation in deren Führung oder dem rein taktischen Kalkül dieser Führung geschuldet (obwohl das noch hinzukommen mag), sondern ist Ausdruck der kompletten Integration der SPÖ in das bürgerlich-kapitalistische Herrschaftssystem und der Aufgabe jeder Orientierung der SPÖ als soziale Reformpartei, geschweige denn als klassisch reformistische Partei, die den Kapitalismus noch überwinden wollte.

3. Weder gesellschaftlich noch auf Wahlebene existiert eine alternative Kraft

Die Nationalratswahl vom 15. Oktober hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass es in Österreich keine relevante linke Kraft gibt, weder eine, die konsequent für soziale Reformen einsteht noch eine, die einen Aufbruch für eine antikapitalistische Perspektive formulieren will.

Das Wahlresultat der KPÖ PLUS mit 0,8% bundesweit ist ernüchternd. Vor allem in Wien und in der Steiermark, wo es linke Milieus gibt und die KPÖ eine gewisse Basis verfügt, müssen die bescheidenen Stimmen zu denken geben. Ohne tatkräftige Unterstützung durch die Jungen Grünen hätte es die KPÖ in den westlichen Bundesländern Salzburg, Tirol und Vorarlberg wohl nicht mal geschafft, einen Wahlkampf zu bestreiten. Das Bündnis mit den Jungen Grünen brachte keine neue Dynamik, hat aber wohl dazu beitragen, dass die KPÖ immerhin noch sichtbar blieb und auf Wahlebene nicht komplett unterging.

Warum erlitt die KPÖ gerade in ihren „Hochburgen“ in Graz und einigen Gemeinden in der Steiermark so starke Verluste? Sie büßte mancherorts zwei Drittel ihrer Stimmen ein. Das deutet darauf hin, dass die langjährige Konzentration der KPÖ Steiermark auf lokale Themen und ihre konsequentere Stellvertreterpolitik noch nicht wirklich dazu führt, sich eine stabile gesellschaftliche Basis zu erarbeiten.

Leider haben weder die KPÖ noch die Jungen Grünen wirklich eine offene und bewegungsorientierte Kandidatur angestrebt. Die Hoffnung der Jungen Grünen den noch verbliebenen Miniapparat der KPÖ zu nutzen und die Hoffnung der KPÖ endlich mal auch mit jungen Leuten was zu tun haben können, schien die Grundlage für diese auf den ersten Blick merkwürdige Symbiose gewesen zu sein. Der Wahlkampf der KPÖ PLUS war in Inhalt und Form konventionell und klassisch sozialdemokratisch, also genau das, was die SPÖ selber nicht mehr vertritt. Die Botschaft war denkbar einfach: wählt uns, wir vertreten euch besser als die anderen, besser als die SPÖ, Pilz und die Grünen. Wie in langer sozialdemokratischer und bisweilen kommunistischer Tradition erhielt man den Eindruck, bei der Nationalratswahl gehe es um eine rein innerösterreichische Angelegenheit. Nicht einmal die ungleiche Entwicklung in Europa war ein Thema. Die WahlkämpferInnen der KPÖ PLUS nutzten den Wahlkampf kaum dazu, um zu erklären, dass nur starke soziale Bewegungen, die eigene Organisierung und das persönliche Einmischen dazu beitragen, das Kräfteverhältnis zu verändern. Zu Rassismus und Migration äußerte sich die KPÖ PLUS in ihrem Wahlkampf kaum. Sollte die Wahlkampfleitung dieses Thema aus taktischen Gründen nicht wirklich konsequent angesprochen haben, zeigt sich auch, dass solche Überlegungen wahltaktisch nutzlos sind. Das zentrale Problem besteht jedoch nicht in der besseren oder weniger guten Wahlkampagne, sondern es stellt sich die Herausforderung, herauszufinden, wie Angehörige der arbeitenden Klasse, unabhängig von Passfarbe, Geburtsort und Geschlecht, eine gemeinsame gesellschaftliche und politische Praxis entwickeln können. Ein linker Wahlkampf sollte dazu dienen, genau eine solche gemeinsame Praxis zu befördern.

Die im Juni 2016 formierte politische Bewegung Aufbruch verabschiedete sich im Winter und Frühjahr 2017 selber aus den Debatten um die Formierung einer linken Bündniskandidatur bei der Nationalratswahl und damit auch vom Anspruch wirklich in die politischen Prozesse eingreifen zu wollen. Die bewegungsorientierten und antikapitalistischen Reflexe von Aufbruch hätten zwar eine gemeinsame linke Kandidatur qualitativ leicht verbessert und auch das Resultat wäre wahrscheinlich ähnlich bescheiden gewesen. Allerdings hätte eine offene linke Bündniskandidatur als Verlängerung vieler Engagierter in der Flüchtlingssolidarität, der Kampagnen gegen Rechts, einiger weniger betrieblicher Auseinandersetzungen und der System Change not Climate Change Bewegung sowie als Ausdruck eines internationalen Kampfes gegen Ausbeutung und imperialistische Dominanz wichtige politische Impulse setzen können. Solche Impulse sind nötig, um die politischen Auseinandersetzungen und Debatten voranzubringen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Aufbruch einen nützlichen Beitrag zur Organisierung von Debatten, Aktivitäten und Bündnissen leistet, welche antikapitalistische Perspektiven bestärken.

Die KPÖ und die Jungen Grünen überlegen sich bereits an kommenden Landtags- und Gemeinderatswahlen abermals mit der „Marke“ KPÖ PLUS anzutreten. Im Stile eines platten Politmarketings scheinen sie davon auszugehen, dass sie auf diese Weise Stimmen von Unzufriedenen ernten könnten. Genau das liefe darauf hinaus, so weiter zu machen wie bisher. Weitere KPÖ PLUS Kandidaturen würden mit großer Wahrscheinlichkeit wieder zu ähnlichen Ergebnissen führen. Die mangelnde politische Perspektive würde damit einfach mit oberflächlichen Wahlkampagnen übertüncht. Sie brächten damit ein rein instrumentelles Verhältnis zu den verschiedenen Milieus, die sie zu repräsentieren vorgeben, zum Ausdruck. Das wäre klassisch sozialdemokratische Politik, allerdings auf 1 % Niveau. Auf diese Weise würden KPÖ und Junge Grüne sich aus den Bemühungen um den Neuaufbau- und Neuformierungsprozess der Linken verabschieden und stattdessen kurzfristige Organisationsziele in den Vordergrund stellen. Die Teilnahme linker Bündnisse an Wahlen kann sinnvoll sein und zwar dann, wenn diese Bündnisse dazu beitragen, politische Klärungsprozesse voranzutreiben und Beschäftigte, Jugendliche, Frauen und MigrantInnen dazu ermuntern, sich aktiv einzumischen.

4. Formierung eines dritten solidarischen Lagers als neue Perspektive?

Seit einiger Zeit argumentieren verschiedene AutorInnen in Deutschland und Österreich für die Formierung eines „dritten solidarischen Lagers“. Auch die Mosaik-Redaktion schließt sich mit ihren fünf Thesen[7] dieser Orientierung an. Eine kleine Recherche offenbart, dass dieser Begriff unterschiedlich verwendet wird. Zumeist wird nicht klar, inwiefern es um eine gesellschaftliche, kulturelle oder politische Bestimmung von Lagern oder eine Kombination verschiedener Betrachtungsebenen geht.

Die häufig vorgenommene Trennung in ein liberales und ein rechtskonservatives Lager, denen ein solidarisches Lager gegenüberzustellen sei, ergibt in Österreich gegenwärtig keinen Sinn. Die strategische Neuorientierung der maßgeblichen Kreise der herrschenden Klassen für eine ÖVP-FPÖ-Regierung, also ein Schulterschluss der Liberalen mit den Rechtskonservativen, demonstriert deutlich, dass diese beiden Lager nicht wirklich voneinander zu trennen sind. Zudem ist der Begriff im österreichischen Kontext völlig missverständlich. Als drittes Lager wird hier traditionell das Lager der deutschnationalen und nationalliberalen WählerInnenschaft neben der konservativen ÖVP und der SPÖ bezeichnet. Mehrere FPÖ PolitikerInnen verwendeten Begriff des dritten Lagers zur Selbstbezeichnung[8]. Doch abgesehen von der fragwürdigen Begrifflichkeit stellen sich grundsätzliche Probleme, so dass der Diskurs über ein solidarisches drittes Lager für einen Klärungsprozess über antikapitalistische Perspektiven nicht zielführend ist.

Ausgehend von der Flüchtlingssolidarität in Deutschland wurde der Begriff des dritten Pols eingeführt. Anfänglich wurde hier argumentiert, dass dieses dritte Lager nicht einfach da sei, sondern es bilde sich durch das soziale Handeln in einer gesellschaftlichen Konfliktsituation. Es schaffe sich selbst, quer zur bekannten Politlandschaft.[9] Das solidarische Lager entstehe also durch eine Politisierung in einer konkreten widerständischen Praxis. Allerdings gibt es diese Praxis, also soziale Bewegungen, derzeit nicht in Österreich.

Entscheidend in dieser Argumentation ist, dass diesem gesellschaftlichen Ausdruck eine politische Form auf der institutionellen Ebene fehlt. Dies lässt sich einerseits auf eine fehlende parteipolitische Form der Repräsentation zurückführen. Im Falle von Österreich hätte nur eine offene Bündnisliste bei den Wahlen ein Angebot für die breiten gesellschaftlichen Elemente der Solidarität bieten können. Eine KPÖ Plus Liste hat dies weder in Form noch Inhalt erfüllt. Andererseits organisieren sich große Teile dieses Spektrums bewusst und explizit jenseits des Parteiensystems. Dies wirft – keineswegs neue – Fragen nach den Möglichkeiten der Vereinbarkeit tradierter Parteiformen und zeitgenössischer widerständischer Politik auf. Andere AutorInnen fokussieren mit dem Konzept des dritten Pols auf die Mobilisierung und Organisierung sozialer Bewegungen durch und für linke Parteien[10]. Die Mosaik-Redaktion scheint sich in ihren fünf Thesen tendenziell auf eine zu schaffende Partei auszurichten, eine neue Linkspartei, die in einem nicht näher definierten Spannungsfeld sozialer Bewegungen steht. Nun stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese „Linkspartei“ zum dritten solidarischen Lager steht. Soll sie ein Teil davon sein, zusammen mit anderen Parteien, oder soll sie dieses Lager gar politisch repräsentieren? Die AutorInnen der Thesen äußern sich hierzu nicht, was wiederum unterschiedliche Interpretationen zulässt.

Zentral ist die Frage, wer zur sozialen Basis des „solidarischen Lagers“ gehören und was dessen politischer Gehalt sein soll. Um politisch relevant zu sein, müsste dieses Lager namhafte Teile der Lohnabhängigen für ein solidarisches Gesellschaftsprojekt gewinnen. Weder in der Flüchtlingssolidarität noch in der Bewegung gegen eine dritte Piste am Flughafen Wien oder gegen den Bau des Muhrkraftwerks kann von einer verbindenden Gesinnung über das jeweilige konkrete Thema hinaus ausgegangen werden. Es lässt sich auch liberalen Geistes hervorragend für die Menschenrechte von Geflüchteten eintreten und Identitäre mögen unter Heimatschutz auch Naturschutz verstehen. Gibt es also eine ausreichend große gemeinsame soziale und politische Vision, welche all diese unterschiedlichen Menschen in verschiedensten sozialen und politischen Initiativen, Bewegungen und Organisationen zusammenführen und zusammenhalten kann? Wenn dem so ist, warum haben sich diese nicht bereits längst als politisches Subjekt konstituiert? Inwiefern wäre es überhaupt kurz- und mittelfristig möglich, deutlich unterschiedliche Interessen und Traditionen in einem solidarischen Lager in einen fruchtbaren Arbeitszusammenhang zusammenzubringen? Kann oder soll auch die SPÖ oder einzelne ihrer Strömungen integriert werden? Welche Rolle kommt den Gewerkschaften zu? Auf welcher Grundlage sollte sich dieses solidarische Lager wohin bewegen? Soll es Bündnisoptionen mit einem der anderen Lager ausloten? Sollen damit längerfristig neue Regierungskonstellationen ins Auge gefasst werden?

Das Konzept des dritten solidarischen Lagers wirft folglich mehr Fragen auf als es zu beantworten vermag. Der originäre Gehalt ist gering. Das dritte solidarische Lager ist ein schlichtes Hilfskonstrukt, dessen soziale Basis, politische Form sowie inhaltlicher Gehalt fraglich bleiben und wenig Nützlichkeit für die bevorstehende Herausforderungen aufweist.

Vor allem in den links urbanen Milieus in Wien scheint das Ausmaß des politischen und gesellschaftlichen Zerfalls der bisherigen ArbeiterInnenbewegung und der politischen Kräfte, die für eine radikale Reformierung oder gar Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft eintreten, stark unterschätzt zu werden. Wir müssen uns eingestehen, dass eine historische Phase der ArbeiterInnnenbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den revolutionären Erhebungen und der russischen Revolution ihren Anfang nahm und während vieler Jahrzehnte durch die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien geprägt wurde, zu Ende gegangen ist. Die sozialdemokratischen und kommunistischen Traditionen sind nur noch das schale Echo vergangener Zeiten, Illusionen, krimineller und degenerierter Praktiken. Leider können wir höchstens ansatzweise Kennzeichen einer neuen Phase erblicken. Das sind kleine Ansätze der Selbstaktivität und der Selbstorganisierung wie sie sich in den sozialen Bewegungen der letzten Jahre in Europa zeigten.

5. Aufbau einer unabhängigen Kraft, die sich an den Interessen der Lohnabhängigen orientiert

Anstatt inhaltlich flache Wahlkampagnen im Stile von KPÖ PLUS zu wiederholen oder ein solidarisches Lager herbeizuschreiben, schlagen wir demgegenüber eine Orientierung auf die Klasse der Lohnabhängigen in ihrer ganzen Vielfalt und Unterschiedlichkeit sowie eine längerfristig ausgerichtete Organisierungsarbeit vor. Die Lohnabhängigen, Deklassierten, Prekären, KleinstunternehmerInnen, MigrantInnen und die große Mehrheit der Frauen brauchen eine Organisation, die ihnen mit Rat und Tat beisteht, die sie unterstützt und die versucht, ihr Sprachrohr in der ihnen fremden Welt tendenziell autoritärer Institutionen zu sein. Eine solche Organisation fehlt seit vielen Jahrzehnten. Das ist bereits so lange her, dass das Bewusstsein über die Nützlichkeit einer solchen Organisation erloschen ist.

Aus der Perspektive der Emanzipation der arbeitenden Klassen besteht ein fundamentales Problem, dass sich in Österreich ganz besonders zeigt. Die Integration der Sozialdemokratie in die Verwaltung des kapitalistischen Herrschaftssystems ist in einem Maße vorangeschritten, dass es kaum mehr Ansätze einer eigenständigen politischen Organisierung von Lohnabhängigen gibt, um als unabhängige Akteure für ihre Interessen als soziale Klasse einzustehen. Die langjährige Sozialpartnerschaft beförderte nicht die eigenständige Handlungsfähigkeit von Gewerkschaften, sondern ihre Bürokratisierung, Verkrustung und Integration in die Verwaltung kapitalistischer Herrschaftsstrukturen. Die Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben ist brüchig geworden. In den neuen Wirtschaftssektoren sind sie kaum präsent. Darum sind sie kaum mehr streikfähig und beschränken sich auf die Interessenvertretung in den Institutionen. Als eigenständige politische Akteure im Dienste der Lohnabhängigen treten sie nur noch punktuell auf. Eine gewerkschaftliche Erneuerungsbewegung im Sinne eines „social movement unionism“ fehlt. Gewerkschaften, die sich als soziale Bewegungen verstünden, die alle lebensweltlichen Belange der Beschäftigten aufgriffen, also von den Problemen am Arbeitsplatz über die Wohnung und das Wohnumfeld, den täglichen Verkehr bis hin zur freien Zeit, würden die Situation bereits stark verändern. Sie könnten ein attraktiver Bezugspunkt für eigene Aktivitäten und ein Labor für neue Ideen sein. Leider sind die Gewerkschaften gegenwärtig weit von einer derartigen Orientierung als umfassende soziale Bewegungen entfernt.

Sowohl die reformerische Linke und erst recht die antikapitalistische Linke agieren aus einer deutlichen Minderheitenposition heraus. Zudem sind die linken Kräfte fragmentiert. Es gibt derzeit nur ein ideelles aber kein reales „linkes Subjekt“. Es gibt keine eigenständige gesellschaftliche und politische Kraft, die sich als Ausdruck der Interessen der Klasse der Lohnabhängigen versteht.

Selbstverständlich muss jede emanzipatorische Perspektive auch danach trachten, gesellschaftliche Mehrheiten zu erringen. Das kann jedoch nur im Zuge umfassender gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geschehen. In einer Widerstandsperspektive und ausgehend von einer anfänglich schwachen Minderheitsposition kann es immer wieder möglich sein, im Zuge großer Mobilisierungen und angemessener Bündnisse sich auf einzelnen Fragen durchzusetzen und gesellschaftliche Mehrheiten zu erringen. Das ist wichtig, um das grundlegendere Kräfteverhältnis zu verändern und hegemonial zu werden.

Eine wichtige Hürde auf diesem Weg ist die gesellschaftliche und politische Fragmentierung der arbeitenden Bevölkerung und ganz besonders das tief verankerte fremdenfeindliche und rassistische Bewusstsein. Die soziale Frage sei mit einer antirassistischen Perspektive zu verbinden, argumentieren die Mosaik-AutorInnen und auch viele Leute in Aufbruch. Das teilen wir. Dem Rassismus und der damit einhergehenden spaltenden Logik muss eine antikapitalistische Linke etwas entgegensetzen, gleichzeitig darf sie aber nicht in dieselbe Logik verfallen und besonders benachteiligte Lohnabhängige über ethnische und nationale Kategorien ansprechen. Es mag 700.000 MuslimInnen in Österreich geben und der Anteil der Bevölkerung mit sogenanntem Migrationshintergrund beläuft sich auf rund 20%. Die Interessen dieser Menschen sind jedoch ähnlich divers wie die der autochthonen Bevölkerung. Die Zuschreibung einer gemeinsamen Identität, die sich negativ aus dem Erleben von Ausgrenzung und Diskriminierung ergibt, reproduziert Kollektivität entlang nationaler und religiöser Zugehörigkeit. Das erschwert es gemeinsame soziale Probleme zu benennen und gemeinsame Erfahrungen zu erleben. Ausgehend vom Befund, dass die österreichische Gesellschaft stark fremdenfeindlich ist und war, ist zu überlegen, wie Lohnabhängige unabhängig von ihrem Geburtsort, ihrer Passfarbe und ihrem Geschlecht solidarische Erfahrungen auf alltäglichen Herausforderungen an ihrem Arbeitsort, an ihrem Wohnort, im öffentlichen Raum und in ihrer Freizeit machen können. Zugleich ist auf all diesen Felder hartnäckig jeglicher rassistischer Tendenzen entgegenzutreten. Die Herausforderung ist schwierig. Es geht darum zu überlegen, wie individualisierte Lohnabhängige, die aufgrund ganz unterschiedlicher persönlicher Erfahrungen, Laufbahnen und Sozialisierungsprozessen lernen, sich gemeinsam zu artikulieren und als politische Subjekte aufzutreten. Hierfür gibt es keine Rezepte. Wie andere fragen wir uns auch, „warum sich so wenige Menschen, die selbst von Rassismus betroffen sind, in der Linken engagieren – und wie wir das ändern können.“[11] Dieselbe Frage ist allerdings für alle Benachteiligten zu stellen. Die Linke spricht hier fast immer nur „über“, selten „mit“ und fast nie „durch“ die Betroffenen. Es geht also darum, die Betroffenen dazu anzuregen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

6. Kämpfe nur von oben oder auch von unten?

Wir können zweifellos feststellen, dass wir uns mitten in einem Klassenkampf von oben gegen unten befinden, der an Härte und Brutalität zunehmen wird. Das bedeutet leider nicht, dass sich automatisch breiter gesellschaftlicher Widerstand entwickeln wird. Wie sollen Menschen plötzlich Widerstand üben, die in ihrem Leben kaum je Erfahrungen in kollektivem und gesellschaftlichem Engagement gemacht haben und auch niemanden kennen, die/der solche Erfahrungen gemacht hat? Wie sollen Menschen die kapitalistische Gesellschaft wirklich in Frage stellen wollen, sind doch die bisherigen Alternativen, namentlich jene die sich selber sozialdemokratisch und kommunistisch nannten, kläglich gescheitert. Das jüngste Beispiel ist das Fiasko des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela. Das Erbe der alten ArbeiterInnenbewegung und der Sozialdemokratie wiegt schwer. Linkspopulistische Projekte und insbesondere ihre Führungspersonen wie Jean-Luc Mélenchon in Frankreich und Pablo Iglesias in Spanien werden die kommenden Enttäuschungen und Enttäuschten hervorrufen. Auch sie betreiben eine traditionelle Stellvertreterpolitik, oftmals sogar mit undemokratischen Zügen, und verhalten sich gegenüber sozialen Bewegungen rein instrumentell. Das erlaubt zwar kurzfristige Wahlerfolge, die sogar über politischen Schwächen hinwegtäuschen können. Eine grundsätzliche Veränderung der Kräfteverhältnisse und Infragestellung der Machtstrukturen ist auf diese Weise allerdings nicht möglich.

Die fatalen Konsequenzen bisheriger Niederlagen und degenerierter sozialistischer Projekte einerseits und die Tragweite der neoliberalen, neokonservativen und autoritären Offensive andererseits sind kaum zu unterschätzen. Das ist der allgemeine historische Kontext zu dem sich die Besonderheiten der Wirkungen der sozialdemokratischen Mitverwaltung, der konservativen Hegemonie und der politischen Atomisierung in Österreich gesellen.

Teilweise besteht in der Linken nun die Erwartung, dass sich gegen das Programm der schwarz-blauen Regierung Widerstrand regen werde. Die Mosaik-Redaktion meint sogar, dass diese „maßgeblich von den Gewerkschaften und der SPÖ getragen werden wird.“ Zweifellos werden sich die Menschen gegen den soziale Angriffe zu wehren beginnen. Doch ob es einen verallgemeinerten Widerstand geben wird, ist komplett offen. Der SPÖ hierbei eine wichtige Rolle zuzuschreiben, erscheint uns komplett illusionär zu sein. Ein Blick auf die letzten drei Jahrzehnte offenbart, dass Sozialdemokratische Parteien kaum irgendwo sozialen Widerstand wirklich mittrugen. Die Mosaik-Redaktion geht offensichtlich davon aus, dass sich innerhalb der SPÖ relevante linke Kräfte bewegen. Was bringt sie zu dieser überraschenden Einschätzung? In einer Stadtteilorganisation in Wien können durchaus einige konsequente SozialdemokratInnen aktiv sein. Für die SPÖ-Politik in den Bundesländern ist das jedoch kaum relevant. Die Reaktionen der SPÖ auf die Vorhaben der neuen Regierung haben bislang keine Anzeichen dafür ergeben, dass sie sich der neokonservativen Offensive entgegenstellen möchte. Ganz in gewohnten Bahnen wird sie sich wahrscheinlich damit begnügen, die Politik der rechten Regierung sozial etwas abzufedern und erträglicher zu machen. Der SPÖ Vorsitzende Christian Kern plädierte in einem Diskussionsbeitrag in der Tageszeitung Der Standard[12] für eine intensive Zusammenarbeit von Unternehmen und Staat zur Stärkung der österreichischen Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Um seine technologielastige Argumentation für eine grüne Wirtschaft zu untermauern, zog er sogar Microsoft Gründer und Milliardär Bill Gates als Referenz heran. Auf lokaler Ebene sieht es nicht besser aus. Vielfach treibt die SPÖ selber Ausgrenzungsprozesse voran und spaltet damit die arbeitende Bevölkerung. Jüngstes Beispiel ist die Führung der Linzer SPÖ, die anerkannten Flüchtlingen die Mindestsicherung nehmen will.[13] Die Vorbereitung einer auch nur ansatzweise konsequenten Oppositionspolitik sieht anders aus.

Die Gewerkschaften hingegen bleiben zentral für die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen und für die Organisierung von Widerstand. Hier können durchaus Situationen entstehen, in denen die Gewerkschaftsführungen so unter Druck geraten, dass sie handeln und ihre eigenen Basis mobilisieren müssen, um weiterhin als VerhandlungspartnerInnen anerkannt zu bleiben. Das kann auch für die Gewerkschaftsbürokratie eine Frage des Überlebens sein, da diese ohne eine gewisse Mitgliedsbasis selber ihre gesellschaftliche Stellung verlieren würde. Entscheidend ist, inwiefern es gelingt, lebendige gewerkschaftliche Vernetzungsstrukturen in den Betrieben aufzubauen, sei es im Rahmen der bestehenden Gewerkschaften oder in eigenständigen Organisationen. In dieser Hinsicht ist Linke, ganz besonders die antikapitalistische Linke, in einer ganz schwachen Situation. Im Rahmen des Projekts Aufbruch gab es nicht mal Diskussionen über dieses Problem. Schnelle Antworten und Erfolgsrezepte gibt es nicht. Diese Herausforderung zu negieren, würde jedoch nur die Situation fortschreiben.

7. Europäische und transnationale Perspektiven

Eine solidarische und ökologische Perspektive, bewege sie sich innerhalb der Schranken der kapitalistischen Gesellschaft oder trachte sie danach, diese zu überwinden, kommt nicht umhin, die EU grundsätzlich in Frage zu stellen. Die EU ist in ihrem Fundament, in ihrer DNA, neoliberal ausgerichtet und agiert zunehmend autoritär. Der neoliberale Gesellschaftsumbau zur Herstellung eines starken europäischen imperialistischen Blocks gegen die Rivalen in Nordamerika und Asien und zur Durchsetzung ungleicher Beziehungen mit den anderen Teilen der Welt ist der Kern der EU. Die nationalen Regierungen haben mittlerweile ein ausgefeiltes Instrumentarium entwickelt, sich der Vorgaben der EU (die sie selber mitgestalten) zu bedienen, um unsoziale und undemokratische Vorhaben zu rechtfertigen und durchzusetzen. Das zeigt auch, dass weder die einseitige Kritik der EU noch der nationalen Regierungen weit trägt.

Gruppierungen wie das Personenkomitee Euroexit und die Solidarwerkstatt erkennen den grundsätzlich neoliberalen und autoritären Charakter der EU sowie die Tragweite der EU-Politik für die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten und damit auch für die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen. Sie erkennen, dass die EU die sozialen und demokratischen Errungenschaften grundsätzlich angreift. Zu Recht widmen sie dem Widerstand gegen eine neue Aufrüstungswelle das nötige Gewicht. Sie kritisieren zu Recht jene Kräfte der Linken, die aus Mangel an eigenen Perspektiven und aus Angst als populistisch abstempelt zu werden, sich vor einer klaren Positionierung gegenüber der EU drücken. Sie ziehen jedoch die falsche Konsequenz, der Austritt aus der EU sei eine Bedingung für eine fortschrittliche soziale Wende in Österreich. Sie verteidigen die Nationalstaaten und somit auch den Nationalstaat Österreich gegenüber der EU und stilisieren ihn sogar positiv als zentralen Bezugspunkt für linke und soziale Politik empor. Sie argumentieren, der Nationalstaat sei weiterhin die Ebene, auf der die relevanten politischen Auseinandersetzungen stattfänden. Dies ist einerseits teilweise richtig, andererseits gerade Ausdruck der Schwäche einer solidarischen und demokratischen Perspektive auf europäischer Ebene, da das Kapital längst den nationalen Rahmen gesprengt hat, ohne allerdings auf den Nationalstaat als zentrales Machtinstrument zu verzichten. Die internationale Expansion der großen Konzerne und die transnationale Organisation der Wertschöpfungsketten verlangt solidarische und demokratische Konzepte auf transnationaler, europäischer und gar globaler Ebene.

Das Fiasko der Syriza-Regierung in Griechenland und die Erdrückung der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung, die in ihrem Kern eine demokratische Bewegung ist, zeigen geradezu auf brutale Weise, dass nationale und kleinräumige Politik an Grenzen stößt. Obwohl die Syriza-Führung im Jahr 2015 ihr eigenes Projekt aufgab und sich komplett dem Diktat der Troika (Europäische Kommission, Eurogruppe und Europäische Zentralbank) unterordnete, ist auch die Mitverantwortung der Linken in Europa für dieses Desaster zu benennen. Die Linke in den wirtschaftlich starken Ländern hätte die Aufgabe gehabt, eine Gegenöffentlichkeit zur neoliberalen und neokolonialen Propaganda herzustellen und damit dem Widerstand in Griechenland einen größeren Handlungsspielraum zu ermöglichen. National oder regional isoliert wird jede alternative Bewegung, die sich dem neoliberalen Rezeptbuch verweigert, letztlich an die Wand gedrückt. Wir brauchen also eine Europäisierung und Transnationalisierung antikapitalistischer Konzepte und Vorschläge, um die neoliberale Hegemonie wirksam in Frage zu stellen und um Alternativen gesellschaftlich zu verankern.

Daher mündet unsere Infragestellung der EU nicht in eine Verteidigung des Nationalstaats oder gar einer idealisierten österreichischen Neutralität. Alle großen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen sind in einer transnationalen, europäischen und teilweise gar globalen Perspektive anzupacken. Das ist wiederum keine abstrakte Erkenntnis. Soziale Bewegungen müssen sich internationalisieren, wollen sie wirksam das Kräfteverhältnis verändern. Auf europäischer Ebene stehen wir methodisch vor der Herausforderung, Vorschläge für eine europäische Organisierung des Transportsystems, der Sozialversicherungen, des Steuersystems und sogar der Lohnbestimmungen zu erarbeiten, die an den aktuellen Problemen ansetzen und zugleich in die Richtung einer solidarischen und ökologischen Organisierung der Gesellschaften in Europa weisen. Ganz besonders betonen wir auch, dass antikapitalistische und ökosozialistische Linke vor der Aufgabe stehen, Bewusstsein für transnationale Zusammenhänge und Perspektiven zu schaffen.

8. Globale Orientierung

Die kapitalistische Weltwirtschaft ist eine wirkungsmächtige Gesamtheit mit zahlreichen räumlichen und sektoralen Differenzierungen. Das Leben der Menschen in Österreich wird von wirtschaftlichen und politischen Prozessen beeinflusst, die sich weit weg abspielen. Der Verlauf Finanzkrise in den USA vor zehn Jahren, das Wachstum in China, der Aufstieg des politischen Islam, der Krieg des syrischen Regimes gegen die eigene Bevölkerung und Einmischung der Nachbarstaaten in den Krieg, das soziale Elend in weiten Teilen Afrikas und die Krisen in Südeuropa sind nur einige Entwicklungen, die sich alle auf das Leben und die Politik in Österreich und ganz Europa ausgewirkt haben. Die durch die kapitalistische Wachstumslogik, die sich weiterhin weitgehend auf fossile Energieträger stützt, verursachte globale Erwärmung, die ökologischen Verwüstungen und Kriege drohen das physische Überleben von Millionen von Menschen in Frage zu stellen. Es ist offensichtlich, dass gesellschaftliche Alternativen, die einigermaßen glaubwürdig sein wollen, global ausgerichtet sein müssen. Die Rückbesinnung auf das Nationale oder gar Regionale scheint kurzfristig verlockend zu sein, wäre aber verheerend.

Immer wieder haben sich unzählige Bewegungen und Initiativen in ganz unterschiedlichen Regionen der Welt entwickelt, die sich in der einen oder anderen Form Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung widersetzten. Seit ihrem Beginn verstanden sich kommunistische, revolutionär-sozialistische und libertär-sozialistische Bewegungen als international. Das war nicht Ausdruck eines abgehobenen Glaubens, sondern schlicht der Erfahrung, dass internationale Zusammenarbeit hilft das Kräfteverhältnis zu verbessern. Sowohl reformorientierte als auch antikapitalistische Strömungen in Österreich und Europa haben sich erstaunlicherweise auf der nationalen Ebene eingeigelt. Erfahrungen und Debatten in anderen Ländern werden kaum wahrgenommen. Einige theoretisieren gar die Konzentration auf lokale Aktivitäten. Nicht über Kämpfe, die sich in anderen Regionen der Welt ereignen, zu reflektieren, würde unweigerlich rasch zu einer Verarmung und Degenerierung des kritischen Nachdenkens und der eigenen politischen Praxis führen.

Eine lebendige und kreative antikapitalistische Kraft muss sich zwingend transnational und global orientieren. Sie muss Impulse von anderswo aufgreifen und über sie nachdenken. Zugleich ist die Zusammenarbeit und Solidarität mit demokratischen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Kräften anderswo auf der Welt unabdingbar, um gemeinsam zu lernen. Lernen heißt aber auch, der Versuchung zu widerstehen, scheinbare Erfolgsmodelle zu verallgemeinern und übernehmen. Die Impulse können aber helfen, sich umso kritischer mit der sozialen Realität und den Kräfteverhältnissen im eigenen Land auseinanderzusetzen.

9. Herausforderungen

Aufbruch versuchte einen Neuformierungsprozess der Linken in Österreich voranzutreiben. Das ist vorerst gescheitert. Mittlerweile zeigt sich, dass der Zerfall linker Zusammenhänge und scheinbarer Selbstverständlichkeiten weit fortgeschrittener ist, als bislang angenommen. Dennoch ist es sinnvoll, Aufbruch weiterhin aufzubauen. Aufbruch kann kreativ eine antikapitalistische Perspektive formulieren, hartnäckig in Auseinandersetzungen eingreifen und unterschiedliche Menschen und Gruppierungen in einem produktiven Dialog zusammenbringen.

Die Herausforderungen in Österreich sind groß. Es geht um einen wirklichen Neuaufbau antikapitalistischer Kräfte. Ohne soziale Bewegungen ist das schwierig. Zentrale Aspekte dieses Neuaufbaus sind politische Klärungsprozesse und Initiativen zur Organisierung. Antikapitalistische Gruppierungen sollten sich an allen, auch bescheidenen, Formen des Widerstandes und der Selbstaktivität beteiligen. Jede Form von Selbstorganisation gegen Auswirkungen der Kürzungspolitik, gegen den zunehmenden Druck am Arbeitsplatz, gegen Einschränkungen demokratischer Teilhabe, gegen den Ausschluss von Teilen der Bevölkerung von sozialstaatlichen Leistungen ist zu unterstützen. Die Herausforderung besteht darin, Forderungen und Perspektiven zu formulieren, die einerseits an konkreten Bedürfnissen und Auseinandersetzungen anknüpfen, diese in einem alternativen Programm zusammenzuführen und schließlich Vorschläge einzubringen, die den Rahmen der bestehenden Konkurrenz- und Profitlogik hinter sich lassen. Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise sind die Initiativen von Beschäftigten im Gesundheitswesen wie „Pflege ist mehr Wert“ und „CaRevolution“. Letztlich werfen diese Initiativen die Frage auf, wie das Gesundheitswesen überhaupt jenseits der Warenlogik organisiert werden soll. Konsequent gedacht führt das mitunter zu einer Infragestellung der kapitalistischen Organisation von Pflegediensten, Krankenhäusern, Krankenversicherungen und Medikamentenherstellung. Gerade im öffentlichen Dienst geht es immer auch darum, die Beschäftigten und die NutzerInnen in einen fruchtbaren Dialog über gemeinsame Perspektiven für gute Arbeitsbedingungen und Qualität der Dienstleistungen zu bringen.

Wir denken, dass antikapitalistische Projekte wie Aufbruch sich einer dreifachen Herausforderung zu stellen haben.

Erstens ist eine politische Kraft zu entwickeln, die sich grundsätzlich der kapitalistischen Profit- und Konkurrenzlogik entgegenstellt. Die Organisation Aufbruch kann hierzu einen Beitrag leisten. Die Herausforderung reicht aber weit über die Kapazitäten von Aufbruch hinaus. Eine relevante Kraft kann sich letztlich nur im Zuge gesellschaftlicher Bewegungen und Auseinandersetzungen entwickeln. Diese antikapitalistische Organisation soll zugleich eine offene Bündnispolitik auf konkreten Sachfragen mit allen Gruppierungen und Individuen betreiben, die sich der neoliberalen und neokonservativen Offensive entgegenstellen wollen. Je nach Auseinandersetzung und Thema können sich durchaus unterschiedliche Bündniskonstellationen ergeben.

Zweitens sind Aktivitäten zu entwickeln, die dazu beitragen, Lernprozesse, eine widerständige Praxis am Arbeitsplatz, am Wohnort, an der Uni und der Schule sowie überhaupt in der Gesellschaft zu befördern. Durch Selbstaktivität und Organisierung können sich die Menschen einbringen und als politische ProtagonistInnen verstehen lernen. Gewerkschaften, die alle lebensweltlichen Belange der Beschäftigten berücksichtigen, MieterInnenverbände, Umweltorganisationen, feministische und antirassistische Organisationen können derartige Selbstermächtigungen zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist das wieder zu entwickelnde Verständnis einer unabhängigen und eigenständigen Organisierung.

Drittens stehen wir der Herausforderung, Programme zu formulieren, die einerseits an den real wahrgenommenen Problemen großer Teil der arbeitenden Bevölkerung ansetzen, von diesen verstanden werden und zugleich in eine Richtung jenseits der Profit- und Konkurrenzlogik hinausweist. Es geht also um eine Programmatik, die ansatzweise Perspektiven eines Übergangs zu nicht-kapitalistischen Formen der Gesellschaft weist. Wie in den Abschnitten 7 und 8 herausgearbeitet, ist diese programmatische Arbeit europäisch, transnational und global auszurichten. Das geht letztlich selbstverständlich nur im internationalen Dialog mit ähnlich Gesinnten anderswo. Im Abschnitt 10 formulieren wir fragend einige Herausforderungen und stützen uns hierbei auf die Methode.

Eine antikapitalistische Organisation, die zugleich radikal, also den Dingen auf den Grund geht, und flexibel breite Bündnisse gegen die neoliberale Offensive eingeht, sollte in der Lage sein, diese drei Ebenen miteinander zu verbinden. Ein linkes Wahlbündnis, das versucht, sozialem Widerstand und antikapitalistischen Ideen einen politischen Ausdruck zu verleihen und dazu beiträgt die zerstreut wirkenden Aktiven zu organisieren, wäre in diesem Rahmen ein großer Fortschritt für die politischen Auseinandersetzungen. Eine Wiederholung von KPÖ PLUS Kandidaturen an Wahlen trüge allerdings gerade nicht zu solchen Prozessen bei. Es geht also nicht darum, (linke) Politik neu zusammenzusetzen (das Motto des Mosaik-Blogs) und allenfalls ein solidarisches Lager zu schaffen. Die Aufgabe ist fundamentaler: es geht um die Neuformierung der Linken und letztlich um den Neuaufbau sozialer und politischer Zusammenhänge, die auch ihren politischen Ausdruck finden sollen.

10. In Bewegung kommen

Möglicherweise werden sich nach der Wahl in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Menschen der verstärkten neokonservativen Gegenreform entgegenstellen wollen. Solche Aktivitäten werden ein wichtiger Ansatz für einen Neubeginn linker Politik sein. Es kann durchaus gelingen, einige Vorhaben der rechten Regierung zu stoppen. Doch solche Bewegungen alleine werden das Kräfteverhältnis kaum substanziell verändern. Es gibt keine kurzfristigen Lösungen. Vielmehr müssen wir uns auf langwierige und schwierige Kleinarbeit einstellen. Dringend sind alternative politische Perspektiven zu erarbeiten und zu organisieren. Das erfordert Zeit und Geduld. Im Kontext der gegenwärtigen Auseinandersetzungen stellen sich wichtige gesellschaftliche und politische Fragen, die allerdings weit über die unmittelbare Abwehr des neoliberalen und neokonservativen Vormarschs hinausgehen. Entsprechend der in Abschnitt 9 dargestellten Herausforderungen und Sinne der unter „drittens“ vorgestellten Methode benennen wir hier zwölf Fragen, deren Beantwortung über die Profit- und Konkurrenzlogik hinausweisen sollte.

  • Wie können wir uns der Offensive des Bürgertums zur Arbeitsflexibilisierung wirksam entgegenstellen? Wie können wir insbesondere Frauen ansprechen, die stark unter einem flexiblen Arbeitszeitregime leiden? Wie lässt sich der Arbeitszeitflexibilisierung eine allgemeine radikale Arbeitszeitverkürzung auf eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich entgegensetzen? Hierbei ist zu vermeiden, dass die Unternehmen die Arbeitszeitverkürzung mit einer Verdichtung und Flexibilisierung der Arbeit durchkreuzen. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ist mit einer Reorganisation der Arbeit in und zwischen den Betrieben sowie einer Neuorganisierung der reproduktiven und der freien Zeit in der gesamten Gesellschaft zu verbinden.
  • Wie können wir die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die damit verbundenen patriarchalen Herrschaftsverhältnisse zurückdrängen und aufheben? Wie kann der Forderung von gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit Nachdruck verliehen werden? Neben einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, stellt sich die Frage nach Formen der Vergesellschaftung von Haus- und Pflegearbeit. Wie kann diese gesellschaftlich organisiert werden?
  • Wie können wir eine gute Bildung für alle hier lebenden Menschen verwirklichen; eine Bildung, die dazu beiträgt, dass sich die Menschen als aktive Gesellschaftsmitglieder verstehen und an gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen beteiligen? Welches Verständnis von beruflicher Ausbildung können wir entwickeln und durchsetzen, so dass Eingeborene und Zugewanderte sich in einer Weise qualifizieren, die ihnen hilft, ihre Arbeitskraft gut und teuer zu verkaufen?
  • Wie sind die Sozialversicherungen zu organisieren, damit alle EinwohnerInnen dieses Landes den gleichen Versicherungsschutz genießen? Viel deutet darauf hin, dass wir hier Vorschläge entwickeln müssen, die an den gewachsenen Strukturen rütteln. Das sind Strukturen, die allerdings Ergebnis der sozialpartnerschaftlichen Praxis sind. Wir sollten der bürgerlichen Gegenreform ein Modell einer öffentlichen Einheitskrankenversicherung, die von den Beschäftigten und den Versicherten kontrolliert wird, gegenüberstellen.
  • Wie hat die Altersvorsorge auszusehen, damit sie allen ein würdiges Altern erlaubt? Die Antwort muss konsequent die kapitalgedeckten Versicherungssysteme in Frage stellen. Bei diesem zunehmend propagierten Verfahren zahlen die Beschäftigten (erzwungenermaßen) Lohnprozente in einen Fonds ein, dessen Mittel zur finanziellen Akkumulation auf den Finanzmärkten und Immobilienmärkten angelegt werden, um eine gewisse Verzinsung zu erzielen. Demgegenüber ist das solidarische Umlageverfahren auszubauen. Hier zahlen die Berufstätigen für die heutigen RentnerInnen in die Kasse ein. Das Umlagesystem ist effizienter und solidarischer und erlaubt es die Produktivitätsgewinne der Gesellschaft gerechter zu verteilen.
  • Wie können wir das Gesundheitswesen so organisieren, dass allen ein Recht auf eine gute und angemessene Gesundheitsversorgung zugesteht? Das geht nur, indem es gelingt, den Warencharakter der entsprechenden Dienstleistungen und Medikamente zurückzudrängen und die Krankenhäuser, Krankenversicherungen und Pharmaindustrie unter demokratische öffentliche Kontrolle zu stellen.
  • Wie sieht ein Transportsystem aus, das einerseits einen gerechten Zugang zu Mobilitätsmöglichkeiten zulässt und andererseits den Ressourcenverbraucht reduziert? Der individuelle Automobilverkehr ist massiv zu reduzieren und zugleich der öffentliche Verkehr auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene auszubauen. Das wirft auch die Frage nach neuen öffentlichen Eigentumsformen und demokratischen Teilhabemöglichkeiten auf.
  • Wie wollen wir Produktion und Konsum organisieren, um den Verschleiß natürlicher Ressourcen, die Zerstörung von Natur und den Klimawandel in Grenzen zu halten? Es geht nicht nur darum die „imperiale Lebensweise“, sondern die kapitalistische (und imperialistische) Produktions- und Herrschaftsweise in Frage zu stellen. Es gilt also den Gebrauchswert in den Vordergrund der Überlegungen über die Organisation der Produktion zu stellen. Das bedeutet perspektivisch die gesellschaftliche Aneignung der Investitionstätigkeit, um den ökologischen Umbau ganzer Industrien und weniger ungleiche Austauschbeziehungen mit anderen Teilen der Welt zu etablieren.
  • Wie wollen wir das Finanzsystem organisieren, so dass es der Finanzierung der Herstellung und des Vertriebs von Gebrauchswerten dient? Die gesellschaftliche Aneignung des Finanzsektors, also der Banken, der Fonds, der Versicherungen und der Börsen ist unabdingbar, um ihn massiv zu reduzieren und so umzubauen, dass er wirklich gesellschaftlich und ökologisch nachhaltige Produktionsstrukturen und -prozesse finanziert.
  • Wie können wir uns der Stärkung der Exekutiven und den Tendenzen eines autoritären Staates mit einer Ausweitung der demokratischen Möglichkeiten entgegensetzen und zwar so, dass die demokratische Teilhabe über den Nationalstaat hinausreicht und schließlich auch die strategischen Investitionsentscheidungen in der Wirtschaft erfasst?
  • Wie können wir die betroffenen Lohnabhängigen und BürgerInnen in konzeptionelle Arbeit zur Beantwortung dieser Fragen einbeziehen? Das ist nicht bloß eine intellektuelle Herausforderung. Antworten werden auch durch Erfahrungen in konkreten Auseinandersetzungen und Versuchen gewonnen. Es geht also um die Organisierung gesellschaftlicher Lernprozesse.
  • Wie beantworten wir alle genannten Fragen auf eine Weise, dass wir sowohl die Klassenverhältnisse als auch die Geschlechterverhältnisse und weitere Herrschafts –und Unterdrückungsverhältnisse im Blick haben und damit beitragen, Ausbeutung und alle Formen der Unterdrückung zurückzudrängen. Wir beginnen mit einer Vorstellung umfassender sozialer und demokratischer Rechte, die auf verschiedenen Maßstabsebenen in durchaus unterschiedlicher Form durchgesetzt werden können.

Die Antworten auf diese Fragen sind nicht leicht und sie hängen davon ab, ob sich die Menschen in Bewegung setzen, sich aktiv für ihre Belange einsetzen: am Arbeitsplatz, an der Bildungseinrichtung, am Wohnort, im öffentlichen Raum, bei den öffentlichen Diensten und der gesellschaftlichen Infrastruktur. Wir hoffen, dass die Gewerkschaften hierzu einen wichtigen Beitrag leisten werden.

Die politische Bewegung Aufbruch hat sich gegründet, um Aktivitäten und Mobilisierungen gegen die neoliberale und neokonservative Offensive zu unterstützen und voranzutreiben. Wir wollen zugleich dazu beitragen, Perspektiven zu erarbeiten, die darüber hinausweisen. Wir wollen die sozialen und ökologischen Herausforderungen gemeinsam denken. Wir setzen dem neoliberalen und neokonservativen Abbruch die Perspektiven eines ökosozialistischen Aufbruchs[14] gegenüber.

[1] Wir verwenden hier den Begriff neokonservativ, um auszudrücken, dass die Programmatik dieser Regierung wirtschaftsliberale Vorstellungen mit einer gesellschaftlich konservativen, autoritären und reaktionären Programmatik verbindet. Der Begriff neoliberal wäre nicht vollständig treffend und charakterisiert beispielsweise eher die Programmatik der Partei Neos.

[2] Verena Kreilinger / Christian Zeller: Neustart wohin? Für den Neuaufbau einer antikapitalistischen Kraft. 22. Dezember 2017. http://mosaik-blog.at/neustart-antikapitalistische-linke-in-oesterreich-aufbruch/ Ungekürzte Version: Verena Kreilinger / Christian Zeller: Neustart wohin? Neuaufbau einer antikapitalistischen Kraft statt Erfindung eines dritten Pols. 28. November 201.7 http://www.aufbruch-salzburg.org/neustart-wohin/

[3] Mosaik-Redaktion: Zeit für einen Neustart: fünf Thesen zur Wahl, 23. Oktober 2017. http://mosaik-blog.at/nationalratswahl-2017-thesen-mosaik-linker-neustart/

[4] OTS, 9. November 2001: Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Österreich: Autoritarismus und Antisemitismus https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20011109_OTS0006/ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-oesterreich-autoritarismus-und-antisemitismus

[5] Tanja Traxler: FPÖ-Wähler stehen ökonomisch weiter links als die Partei. Der Standard, 21. Dezember 2017  http://derstandard.at/2000070788364-2000020665585/FPOe-Waehler-stehen-oekonomisch-weiter-links-als-die-Partei.

[6] SORA: Wahlanalyse Nationalratswahl 2017, SORA/ISA im Auftrag des ORF

Gerald Gartner Arbeiter zur FPÖ, Akademiker zur SPÖ: Welche Wählergruppen wohin gewechselt sind. Der Standard 17. Oktober 2017

http://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2017_NRW_Wahlanalyse.pdf

http://derstandard.at/2000066198328/Welche-Waehlergruppen-wohin-gewechselt-sind

[7] Mosaik-Redaktion: Zeit für einen Neustart: fünf Thesen zur Wahl, 23. Oktober 2017

http://mosaik-blog.at/nationalratswahl-2017-thesen-mosaik-linker-neustart/

[8] Wikipedia, Drittes Lager, 10. Dezember 2017 https://de.wikipedia.org/wiki/Drittes_Lager.

Thomas Schmidinger: Das Dritte Lage und die Nazis. Jungle World, Nummer 11 vom 16. März 2005.

http://homepage.univie.ac.at/thomas.schmidinger/php/texte/re_das_dritte_lager_und_die_nazis.pdf

[9] Horst Kahrs Wer/Was ist eigentlich der „Dritte Pol“? , 23. August 2016

http://www.horstkahrs.de/wp-content/uploads/2016/08/2016-08-23-Ka-Dritter-Pol.pdf

[10] siehe zum Beispiel Mario Candeias, 22. April 2016

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1009532.den-dritten-pol-wieder-sichtbar-machen.html

[11] Mosaik-Redaktion: Zeit für einen Neustart: fünf Thesen zur Wahl, 23. Oktober 2017

http://mosaik-blog.at/nationalratswahl-2017-thesen-mosaik-linker-neustart/

[12] Christian Kern: Die Sozialdemokratie hat eine große Zukunft. Der Standard, 8. Dezember 2017. http://derstandard.at/2000069877857/Die-Sozialdemokratie-hat-eine-grosse-Zukunft

[13] OÖ Nachrichten, 21. November 2017. http://www.nachrichten.at/oberoesterreich/Linzer-SPOE-will-Fluechtlinge-aus-der-Mindestsicherung-nehmen;art4,2741018

[14] Siehe den Entwurf des Orientierungstextes von Aufbruch Salzburg Zur gesellschaftlichen Aneignung und Emanzipation. http://www.aufbruch-salzburg.org/diskussion/diskussionen/programm/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.