Im August 1973 traten die Arbeiterinnen der Neusser Vergaserfabrik Pierburg in den Ausstand. Der damalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Dieter Braeg erinnert sich an einen der legendärsten Streiks der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Der Streik war ein hervorragendes Beispiel von Selbstorganisation und Selbstermächtigung der Beschäftigten, die vorwiegend Migrantinnen waren. Dieter Braeg gab der Zeitschrift Marx21 ein  Interview, das wir hier gerne übernehmen. Dieter lebt mittlerweile in Salzburg und arbeitet mit Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative zusammen.

Interview mit Dieter Braeg,
Marx 21, 13. August 2019

Dieter Braeg arbeitete von 1971 bis 2004 beim Automobilzulieferbetrieb Pierburg in Neuss. Hier war er zehn Jahre im Betriebsrat tätig. Zum vierzigsten Jahrestag des Pierburg-Streiks hat er einen Sammelband mit historischen Dokumenten zum Streik von 1973 herausgegeben.

Dein Buch über den Arbeitskampf bei Pierburg heißt »Wilder Streik – Das ist Revolution«. Was hat es mit dem Titel auf sich?

Der Titel geht auf eine Aussage des damaligen Polizeidirektors von Neuss gegenüber einem Journalisten zurück. Mit dem Verweis auf den »revolutionären Charakter« des Streiks versuchte er, die brutalen Übergriffe der Polizei gegen die Arbeiterinnen zu rechtfertigen. Bereits unmittelbar bei Streikbeginn zur Montagsfrühschicht um sieben Uhr hetzte die Firmenleitung über Notruf die Polizei auf die Arbeitsunwilligen vor den Werktoren. Die setzte Knüppel gegen die Kolleginnen ein. Die Staatsmacht schätzte die Streikbewegung als so gefährlich ein, dass sie bereit war mit repressivsten Methoden dagegen vorzugehen.

Der Streik bei Pierburg war Teil einer ganzen Welle von »wilden« Streiks, die im Frühjahr und Sommer 1973 durch die Bundesrepublik rollte. Über 300.000 Arbeiterinnen und Arbeiter waren daran beteiligt. Wie kam es dazu?

Die SPD-Regierung unter Brandt war aus den Wahlen 1972 gestärkt hervorgegangen. Viele ihrer Wähler hatten große Erwartungen und erhofften sich eine wesentliche Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht und die SPD nutzte ihren Einfluss in den Gewerkschaften, um die Lohnforderungen niedrig zu halten. Auch die IG-Metall-Führung schloss entgegen den Erwartungen ihrer Basis verhältnismäßig niedrige Tarifverträge ab. Angesichts der hohen Inflation bedeutete das in Bezug auf die Reallöhne die erste Nullrunde seit dem Wirtschaftswunder. Eine Serie von betrieblichen Arbeitskämpfen, die nicht von den Führungen der Gewerkschaften getragen wurden, hebelten diesen Abschluss bis zum Spätsommer faktisch aus.

Es ging aber nicht nur um Lohnerhöhungen. Gerade in Unternehmen, in denen viele ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt waren, gab es weitere Forderungen. Die Wohnungssituation, hoher Arbeitsdruck, ungleiche Behandlung und Bezahlung waren wichtige Themen.

Bei Pierburg arbeiteten damals fast 3000 Beschäftigte, überwiegend Frauen, darunter etwa 1700 Migrantinnen. Wie sah der Alltag im Betrieb aus?

Meister, Vorarbeiter und Einrichter – natürlich alles Männer – bestimmten den Arbeitseinsatz der Frauen an den Fließbändern. Die erhielten zwar Zeitlohn, aber je nach Auftragslage wurden immer höhere Stückzahlen verlangt. Zeitnehmer setzten alle Vierteljahre neue Normen. Dabei spielte die Grenze des menschlichen Leistungsvermögens keine Rolle. Fertigte eine Fließbandeinheit im Jahr 1970 noch 800 Vergaser pro Schicht, waren es 1973 bereits 1.300. Am stärksten betroffen waren die ausländischen Frauen. Bis auf wenige Ausnahmen mussten sie – wegen der angeblich »geringen körperlichen Belastung« –  in der Lohngruppe zwei für 4,70 DM pro Stunde im Akkord schuften.

Wie konnte die Geschäftsführung solche unmenschlichen Arbeitsbedingungen durchsetzen?

Wer nicht mitzog, musste mit Bestrafung rechnen. Also: keine Überstunden, ständige Einteilung an besonders unbeliebten und schwierigen, schmutzigen Arbeitsplätzen. Wenn eine der Frauen zu oft auf die Toilette ging, gab es dafür Verwarnungen und die Androhung der Entlassung.

Der Streik erfolgte ohne Urabstimmung und ohne formale Genehmigung der Gewerkschaft. Wer hat ihn organisiert?

Ausländische und deutsche Vertrauensfrauen und -männer organisierten gemeinsam mit dem Betriebsrat den Streik. Dabei mussten die Betriebsräte besonders geschickt taktieren, weil die Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes die »vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Wohle des Betriebes« fordern.

Viele Betriebsräte begreifen das »Co-Management« ja auch heute noch als ihre eigentliche Aufgabe. War das bei Pierburg schon immer anders?

Nein, ganz im Gegenteil. Der Betriebsrat war lange Zeit ein echter »Partner« der Geschäftsleitung. Die gingen auch mal gemeinsam ein paar Bierchen trinken. Es gab Aufrufe, in denen der Betriebsrat gemeinsam mit der Geschäftsleitung Maßnahmen für diejenigen androhte, die unpünktlich mit der Arbeit begannen.
Um die Probleme der Beschäftigten kümmerte er sich hingegen wenig. Vor allem nicht um die der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Obwohl 75 Prozent der Belegschaft aus dem Ausland kamen, waren alle Betriebsratsmitglieder Deutsche.

Wie begann sich dieses Verhältnis zu verändern?

Eine wichtige Rolle spielte der Aufbau des gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers durch die IG-Metall-Ortsverwaltung. In ihm waren die ausländischen Kolleginnen und Kollegen zu 50 Prozent vertreten. Die ungefähr 30 bis 40 Vertrauensleute konnten gute Erfolge vorweisen. Innerhalb weniger Jahre stiegen die Mitgliederzahlen von etwa 200 auf über 2000 an. Im Jahr 1970 begann der Vertauenskörper, offensiv den damaligen Betriebsrat zu bekämpfen. Bei der Betriebsratswahl 1972 gelang es schließlich, über die Hälfte der Sitze mit Vertrauensleuten zu besetzen. Als auch der ehemalige Betriebsratsvorsitzende bei der Wahl knapp unterlag, traten die letzten alten Betriebsräte zurück.

Was machte der neuen Betriebsrat anders?

Er ignorierte die Unterdrückungsmethoden der Vorgesetzten nicht länger. Korrupte Dolmetscher zog er zur Rechenschaft. Seit der Betriebsratswahl 1972 gab es keine Zustimmung der Betriebsräte mehr zu geplanten Entlassungen. Die gewerkschaftliche Arbeit wurde noch aktiver. Vertrauensleute und Betriebsräte diskutierten die geleistete Arbeit und die anfallenden Probleme. Vereinbarungen erarbeiteten beiden Gremien gemeinsam. Das gewerkschaftliche politische Schulungsprogramm wurde ausgenutzt, Tarifbewegungen offensiv eingeleitet und durchgeführt, Chile-Resolutionen und Geldsammlungen für gekündigte Kollegen bei Mannesmann organisiert. Das Wichtigste war aber, dass alle Konflikte nun immer öffentlich ausgetragen wurden, vor den Augen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Wir haben regelmäßige Betriebsversammlungen durchgeführt, in allen Sprachen, die im Betrieb gesprochen wurden. Diese Versammlungen gingen durch die vielen Diskussionsbeiträge teilweise bis zu fünf Stunden. In akuten Konfliktsituationen versuchten wir, so rasch wie möglich zusätzliche Abteilungsversammlungen durchzuführen.

Warum war diese Kursänderung wichtig?

Wir wussten, dass wir ohne offene Information der Kollegen schwach sind. Deswegen durfte unsere Arbeit als Betriebsräte nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter mussten lernen, dass ein Betriebsrat, auf sich allein gestellt, nichts erreichen kann. Wir mussten begreifen, dass wir dazu da waren, die Meinungsbildung innerhalb der Belegschaft anzustoßen und umzusetzen. Wir verstanden uns nicht als Integrationsfunktionäre, sondern wollten die Beschäftigten dabei unterstützen, eigenständig zu handeln. Denn letztendlich sind Interessen nicht »vertretbar«. Ihre Durchsetzung lässt sich nur gemeinsam erkämpfen.

Welchen Effekt hatte diese Strategie des Betriebsrates?

Die Arbeiterinnen und Arbeiter gewonnen an Selbstvertrauen und es kam vermehrt zu Aktionen. Ganze Abeilungen zogen in die Kantine und diskutierten mit ihren Vorgesetzten über die Arbeitsbediungen. Unterschriftenaktionen der Belegschaft stellten sich als ein wichtiges Mittel heraus, um Kampfbereitschaft zu entwickeln. Wir als Betriebsrat haben die so entstandene Unruhe im Betrieb weiter politisiert, bis die Streikbereitschaft unter den Kolleginnen und Kollegen gegeben war.

Was waren die Forderungen des Streiks?

Schon im Juni 1973 war es erstmals zu einem spontanen Streik gekommen. Etwa 300 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten sich daran und verlangten die Erfüllung einer ganzen Reihe von Forderungen, die sie selbst in einer längeren Diskussion mit dem Betriebsrat zusammengetragen hatten. Genau daran ist der Streik dann aber auch gescheitert. Denn zum Schluss war das ein Katalog von dreizehn Punkten, die kein Mensch mehr durchschauen konnte. Es fehlte das Vertrauen, diese Forderungsliste auch durchgesetzt zu bekommen, und keiner war mehr bereit, dafür überhaupt zu streiken. Nach zwei Tagen brach der Streik zusammen.

Daraufhin haben wir gemeinsam diskutiert, mit welchen Forderungen man einen Streik über eine längere Zeit zum Erfolg führen kann. Die beiden wichtigsten Forderungen waren eine Stundenlohnerhöhung um eine Mark und die sofortige Streichung der sogenannten Leichtlohngruppe zwei. Die Forderung nach einer Mark mehr war für die gesamte Belegschaft aufgestellt worden. Die zweite Forderung war speziell für die Frauen, die im Streik ja auch eine führende Rolle gespielt haben.

Wie reagierte die Geschäftsführung?

Die Geschäftsleitung war nicht bereit, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Ruhe im Werk war stets erste Pierburg-Pflicht. Um jeden Preis sollte die Leichtlohngruppe zwei über den Sommer hinweg gerettet werden. Im Herbst gedachte man dann 300 neue Migrantinnen einzustellen und die länger Beschäftigten abzuschieben. Das erklärt auch die kompromisslose Härte, mit der die Pierburg KG den Arbeitskampf führte und streckenweise bis ins Unerträgliche zu eskalieren trachtete.

Mit Hilfe eines Werkschutzes, der sich aus leitenden Führungskräften der Firma zusammensetzte, versuchte das Unternehmen die Streikenden zur Aufgabe des Kampfes zu zwingen. Doch weder die Kündigungsandrohungen noch brutale Polizeieinsätze beendeten den Streik. Es gab keine Minute, in der wir hätten befürchten müssen, dass dieser Arbeitskampf wegen der Einschüchterungen an Kraft verlieren würde.

Der Streik im Kölner Fordwerk 1973, der ebenfalls von migrantischen Arbeitern getragen wurde, endete in einer Niederlage. Die Aktivisten wurden als angebliche Rädelsführer abgeschoben und die Springerpresse titelte: »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«. Wie gelang es in Pierburg, die Spaltung der Belegschaft aufzuheben und auch die deutschen Facharbeiter für den Kampf zu gewinnen?

Der Arbeitskampf bei Ford konnte niedergeschlagen werden, weil es nicht gelang, eine einheitliche Streikfront zu errichten. Unterstützt durch rassistische Hetze in der Presse und massiven Polizeieinsatz konnte die Geschäftsleitung die Streikenden spalten.

Der Betriebsrat und der Vertrauenskörper bei Ford bestanden fast ausschließlich aus Deutschen. Sie sahen durch die spontanen Aktionen ihre Autorität und damit ihre Stellung als anerkannte Vermittler gefährdet. Um ihre Privilegien zu sichern, halfen die Betriebsräte aktiv mit, den Streik abzuwürgen. Der Personalrat lobte sie später für ihren »vorbildlichen körperlichen Einsatz«.

Was war bei Pierburg anders?

Dass sich die Belegschaft bei Pierburg nicht spalten ließ, liegt sicherlich auch daran, dass die betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen voll hinter dem Streik standen und ihn mit allen Mitteln unterstützten. Natürlich gab es auch hier Probleme mit Rassismus und Spaltungsversuchen. Aber es gelang nicht, den Streik zu brechen. Am vierten Streiktag überreichten die Streikenden jedem Arbeiter, der ins Werk ging, eine rote Rose. Eine Gruppe streikender Frauen brachte einen riesigen Strauß zu den Facharbeitern im Werkzeugbau. Auf der Karte stand: »Viele Grüße von den streikenden Frauen an den Werkzeugbau. Helft uns!« Als die Kollegen mit dem hocherhobenen Strauß aus dem Werk kamen und sich dem Streik anschlossen, kam es zu Tränenausbrüchen, Umarmungen und Freudentänzen. Erst als auch die Facharbeiter in den Streik eingriffen, war die Geschäftsleitung bereit, sich mit dem Betriebsrat auf Verhandlungen einzulassen. Letztlich wurden die Forderungen weitgehend erfüllt. Die Lohngruppe zwei wurde restlos gestrichen und zudem Lohnzuschläge von 53 bis 65 Pfennig pro Stunde erkämpft.

Wie ging es in den folgenden Jahren weiter?

Es gab Versuche, das Werk zu verlagern und die »Rädelsführer« des Streiks fristlos zu entlassen. Beides glückte der Geschäftsleitung jedoch nicht. Die kritische Betriebsarbeit wurde viele Jahre fortgesetzt und führte zu einer entsprechend kritischen Belegschaft, die sich wehren konnte.

Welche Lehren ziehst du aus dem Streik bei Pierburg für heute?

Der Pierburg-Streik ist ein Beispiel für den erfolgreichen Widerstand gegen Kapitalinteressen. Er zeigt das gewaltige Potenzial von Solidarität. Ausgangspunkt dieser Solidarität war dabei das selbstbewusste und mutige Handeln der Arbeiterinnen und ein Betriebsrat, der sich nicht als Co-Manager verstand, sondern als Werkzeug zur Selbstermächtigung der Beschäftigten. Wenn ich heute sehe, wie widerstandlos die Frauen von Schlecker in die Arbeitslosigkeit getrieben werden, dann frage ich mich: Haben die Gewerkschaften verlernt, sich wirkungsvoll gegen solche Übergriffe des Kapitals zu wehren? Viele der Punkte, die schon 1973 auf der Tagesordnung standen, sind heute leider immer noch aktuell. Die Frauenlohngruppen sind zwar abgeschafft, aber die Niedriglohngruppen haben sich mittlerweile in einen veritablen Niedriglohnsektor verwandelt. Die Kämpfe der Beschäftigten dort haben Ähnlichkeit mit dem der Pierburg-Frauen. Das sieht man zum Beispiel bei den streikenden Gebäudereinigerinnen und -reinigern, die im Jahr 2010 für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen gekämpft haben, oder den Verkäuferinnen und Verkäufern im Einzelhandel, die sich in den letzten Jahren immer wieder im Arbeitskampf befanden. Ich hoffe, mein Buch kann eine Anregung sein, die Diskussion über eine Demokratie zu führen, die endlich nicht mehr an den Betriebstoren endet, sondern in die Betriebe einkehrt und von dort aus die Gesellschaft verändert.

Das Interview führten Martin Haller und Yaak Pabst

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