Gestern Sonntag hat die US-amerikanische Regierung in einem Statement erklärt, dass sich ihre Truppen aus der Grenzregion zwischen Nordsyrien und der Türkei vollständig zurückziehen werden. Damit ist nun der Weg frei für die von langer Hand geplante türkische Invasion nach Nordsyrien. Dieser drohende Krieg wird verheerend sein, und muss unbedingt verhindert werden.

von Matthias Kern
aus sozialismus.ch

Schon seit Monaten dauerte das Tauziehen zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und der amerikanischen Regierung, die im mehrheitlich von Kurd*innen bewohnten Nordsyrien unterschiedliche Pläne verfolgten.

Die gegenwärtige Aufteilung Syriens: Die Syrian Democratic Forces (SDF) kontrollieren die gelb eingezeichneten Gebiete. Die kurdischen Volksverteidgungseinheiten YPG sind zusammen mit den Frauenverteidigungseinheiten YPJ die stärkste Komponente der SDF, die allerdings auch lokale assyrische und arabische Verbände vereinigt. Das Assad-Regime im Bündnis mit russischen Truppen und iranischen Kampfverbänden kontrolliert die rot markierten Gebiete. Türkische Truppen im Bündnis mit islamistischen Verbänden halten die grün markierten Gebiete im Nordosten um Afrin und Al Bab besetzt. Das dunkelgrün markierte Gebiet um Idlib wird von islamistischen Kräften gehalten. Die helgrün eingezeichnete Fäche im Süden ist schwach besiedeltes Wüstengebiet, das von lokalen Rebellen gehalten wird. In den kleinen grau gefärbten Gebieten in der Wüste halten sich noch versprengte Einheiten des sogenannten Islamischen Staates. Der Staat Israel hält die blau markierten Golanhöhen seit 1967 besetzt.

Während die US-Administration mit ihrer Präsenz in Syrien vor allem dem Einfluss des Irans einen Riegel schieben wollte und zugleich ein Wiedererstarken des Islamischen Staates verhindern sollte, sah die türkische Regierung in den kurdischen Kräften in Nordsyrien einen Ableger der PKK, die vom türkischen Staat seit Jahrzehnten bekämpft wird.

Die Türkei will eine «Sicherheitszone»

Die Türkei pochte seit Monaten darauf, in der Region eine «Sicherheitszone» einzurichten. Dass es dabei keinesfalls um Sicherheit, sondern um das Bekämpfen der kurdischen Kräfte geht, ist klar.

Erdogan mit einer Karte der von ihm vorgeschlagenen «Sicherheitszone».

Bislang hat sich die USA gegen dieses Vorhaben gesträubt. Zu stark schienen im amerikanischen Sicherheitsapparat die Bedenken, dass die Türkei sowohl einen umfassenden Krieg gegen die Kurd*innen führen könne, und gleichzeitig ein Wiedererstarken des IS verhindern wird. In von kurdischen Kräften kontrollierten Flüchtlingslagern und Gefängissen sitzen mehrere zehntausend ehemalige IS-Kämpfer und ihre Familien. Die SDF haben klar gemacht, dass bei einem Angriff der Türkei die Sicherheit und der Verbleib dieser Elemente nicht mehr garantiert werden könne. Es wäre also mit einem Wiedererstarken der radikalen Islamisten zu rechnen.

Den Fakt, dass die internationalen Kräfte ein Interesse daran haben, dieses drohende Wiedererstarken des IS zu verhindern, versuchten die SDF in den letzten Monaten für sich zu nutzen. Das Lower Class Magazine schreibt hierzu: «Das Militärbündnis SDF sowie die zivilen Institutionen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien versuchten in den vergangenen Monaten durch Zugeständnisse an die US-geführte Anti-IS-Koalition das Unvermeidliche noch hinauszuzögern. Die Überlegung war: Die USA werden die Errungenschaften im Kampf gegen den Islamischen Staat nicht den regionalen Annexionsbestrebungen Erdogans, des offenen Unterstützers aller dschihadistischen Gruppen in Syrien, opfern. Zudem kalkulierte man, dass die Widersprüche zwischen Ankara und Washington in der Region wie im internationalen Konflikt zwischen den USA und Russland groß genug seien, um mit ihnen zu spielen und durch kluge Diplomatie den Bestrebungen Erdogans einen Riegel vorzuschieben.»

Im Rahmen dieser Zugeständnisse bauten die SDF Befestigungen und Wälle an der Grenze zur Türkei ab und es kam zu amerikanisch-türkischen Patrouillen auf syrischem Boden. Schnell wurde jedoch klar, dass diese Zugeständnisse nicht mit den Interessen des türkischen Staates kompatibel sind. Und nun ist es tatsächlich zur Kehrtwende gekommen. Die USA haben den türkischen Wünschen vollumfänglich entsprochen und sich aus dem Gebiet zurückgezogen. Diese vom Zeitpunkt her überraschende Entscheidung, die der US-Präsident Trump nach einem Telefonat mit Erdogan getroffen hat, lässt auch viele amerikanische Beobachter*innen ratlos zurück und passt in das Muster der erratischen und impulsiven US-Aussenpolitik unter Trump.

Was passiert jetzt?

Mit dem Rückzug der amerikanischen Spezialkräfte aus der Grenzregion haben diese nun den Weg für den Einmarsch der türkischen Truppen freigemacht. Der Name der Operation scheint auch bereits festzustehen und könnte zynischer nicht sein: «Quelle des Friedens». Die SDF haben angekündigt, eine solche Kriegserklärung nicht unbeantwortet zu lassen und drohen mit einem umfassenden Krieg entlang der gesamten türkischen Grenze. Dass es tatsächlich dazu kommen wird, dafür sprechen zurzeit alle Zeichen. Ein solcher Krieg wäre für die Region, die sich noch im Wiederaufbau nach der Zeit der islamistischen Terrorherrschaft befindet, verheerend. Millionen Menschen würden zur Flucht gezwungen. Der Effort, den IS aus dem Gebiet zu vertreiben, welcher zehntausende Tote gekostet hat, würde mit einem Schlag zunichte gemacht.

Amerikanische Einheiten in Syrien auf dem Rückzug aus der Grenzregion Syrien/Türkei.

Nach den völkerrechtswidrigen türkischen Einmärschen in der Region rund um Al-Bab 2016 und in die Region Afrin 2018 im Nordwesten Syriens, die ebenfalls von kurdischen Kräften kontrolliert wurde, geht die Türkei nun also noch einen Schritt weiter. Bereits werden islamistische Kämpfer aus Idlib, der einzigen noch von den syrischen Rebellen gehaltene Region, für den Kampf gegen die Kurd*innen rekrutiert. Ob die kurdischen Kräfte der SDF diesem Angriff der zweitgrössten NATO-Armee standhalten können, ist mehr als fraglich. Das Gebiet ist grösstenteils flach und so kann die türkische Luftwaffe ihre Vorteile vollständig zur Geltung bringen.

Gleichzeitig wird es wohl zu einer Eskalation des Guerilla-Krieges, den kurdische Kräfte in der Türkei, im Irak, aber auch in den türkisch besetzten Regionen in Syrien führen, kommen. Es wird sich zeigen, ob und wie dieser Kampf auch in die türkischen Metropolen überschwappt. Fest steht: Es wird blutig.

Unsere Pflicht: Gegen den Krieg!

Es wird vermutlich in den folgenden Tagen und Wochen vermehrt zu Demonstrationen und Aktionen gegen das Vorgehen der türkischen Regierung auch in Europa kommen. Zeigen wir den kurdischen Aktivist*innen und Kämpfer*innen, dass sie nicht alleine sind. Zudem wird es endlich Zeit, die guten Geschäfte, seien es Lieferungen von Rüstungsgütern, oder der unsägliche so genannte «Flüchtlingsdeal» zwischen der EU und der Türkei genauer unter die Lupe zu nehmen und die Verantwortlichen zu benennen: Sie arbeiten direkt mit dem diktatorisch regierenden türkischen Präsidenten Erdogan zusammen, der mit seinem Krieg gegen die Kurd*innen die Region und die Leben Hunderttausender zerstört.

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