Die von der indischen Regierung getroffenen Massnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus bedrohen Millionen von Arbeiter*innen im informellen Sektor in ihrer Existenz und lösten einen Massenexodus von Binnen-Migrant*innen aus. Dass diese Arbeiter*innen der Krise schutzlos ausgeliefert sind, hat strukturelle Gründe, die in der kapitalistischen Globalisierung liegen und durch neoliberale Strukturreformen verstärkt werden.

von Heinz Reiher
sozialismus.ch

Am 25. März um acht Uhr morgens verkündet der indische Premier Minister Narendra Modi völlig unvermittelt einen 21-tägigen sofortigen Lockdown des 1.3 Milliarden Einwohner*innen umfassenden Staates. Der hindu-nationalistische und neoliberale Führer der rechtsextremen BJP, die in Indien seit 2014 an der Macht ist, beweist damit einmal mehr, dass ihm jegliche Achtung vor der Würde und dem Leben der Hunderten von Millionen Inder*innen, die unter Bedingungen von kompletter sozialer Unsicherheit im informellen Tieflohnsektor arbeiten, fehlt. Mit dem Lockdown ruft er willentlich eine humanitäre, soziale und gesundheitliche Krise gigantischen Ausmasses aus. Diese zeigt auf, wie die von Armut betroffenen Bevölkerungsteile des Globalen Südens von den Massnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus in einem Masse betroffen sind, welches in den westlichen Industriestaaten unvorstellbar ist.

Mit der Einstellung aller «nicht essentiellen» ökonomischen Aktivitäten verlieren Millionen von Inder*innen, die im informellen Sektor arbeiten und oft von der Hand in den Mund leben, von einem Tag auf den nächsten ihre Existenzgrundlage. Informell angestellte Menschen, die auf den Baustellen der indischen Grossstädte in Zelten leben und arbeiten, die «rag pickers», die in den gehobenen Quartieren Abfall einsammeln, um ihn zu sortieren und zu recyceln, die Strassenverkäufer*innen, Rikschafahrer*innen, Putzmänner und -frauen, schwarzarbeitende Heim- und Fabrikarbeiter*innen stehen alle per sofort ohne Einkommen da. Von einem Tag auf den anderen können sie weder Essen kaufen noch Miete bezahlen. #StayatHome funktioniert nur, wenn mensch ein Haus hat, in dem sie*er bleiben kann. Der Aufruf zum Social Distancing ist für diese Menschen blosser Hohn – die Einhaltung der Massnahmen ein Privileg für die, die es sich leisten können. Während die indische Polizei mit übler Gewalt auf Menschen einprügelt, die den Lockdown schlichtweg nicht einhalten können,[1] bleibt Millionen von binnen-migrantischen Arbeiter*innen nichts anderes üblich, als die Slums der indischen Mega-Cities zu verlassen und in ihre oft mehrere hundert Kilometer entfernten Dörfer zurückzukehren. Mit dem Lockdown wurde aber auch der öffentliche Verkehr praktisch vollständig eingestellt. Tausende versuchen, in ihrer Verzweiflung oft auch mit Gewalt,  sich einen Platz in einem der wenigen Busse oder Züge, die noch fahren, zu ergattern.[2] Während die Regierung Geld spricht, um die reichen Inder*innen, die im Ausland gestrandet sind, zu repatriieren, wurden für die Binnen-Flüchtenden keine Transportmöglichkeiten organisiert. Die Allermeisten machen sich also zu Fuss auf den Weg. Oft mit viel zu wenig oder gar keinem Proviant. Es ist der grösste Massenexodus seit der traumatischen Erfahrung der Teilung Indiens.

Alles zur Corona-Krise

Eine Frage des Überlebens

Nicht alle überleben diese Völkerwanderung entlang der Highways, die schon in den ersten Tagen mindestens 20 Tote forderte.[3] Viele, die ankommen, finden ihre Dörfer abgeriegelt – aus Angst vor Covid-19.[4] In gewissen Bundesstaaten wurden auf Empfehlung der Zentralregierung die Grenzen geschlossen,[5] in anderen werden die Corona-Flüchtenden zwecks Desinfektion mit gesundheitsschädlichen Chemikalien abgespritzt.[6] Jenen, die in den Heimatdörfern ankommen, stellt sich dann die Frage, wovon sie leben sollen, erneut. Dies sind die völlig vorhersehbaren Konsequenzen von Modis Lockdown, die ohne weiteres in Kauf genommen wurden. Ihm fällt dazu nichts Gescheiteres ein, als diejenigen, deren prekäre Existenz er gerade mit einer einzigen Rede zerstört hat, um Vergebung zu bitten. Den Rest der Bevölkerung ruft er dazu auf, zwei Mal täglich von ihren Balkonen aus gegen den Corona-Virus zu applaudieren. Ich weiss nicht wie gross der Anteil an Balkonbesitzenden in der indischen Bevölkerung ist, er dürfte aber beschränkt sein. Für die grosse Mehrheit der Balkonlosen, ist der Aufruf eine bittere Erinnerung daran, was für ein abgehobenes Arschloch aus der herrschenden Klasse ihr Staatschef ist – nicht dass man sie daran hätte erinnern müssen.

Gleichzeitig sind Modis BJP Parteifreund*innen in Delhi damit beschäftigt, den Ausbruch des Virus für ihre rassistische Hetze gegen die muslimische Bevölkerung zu missbrauchen. Nur Wochen nach anti-muslimischen Pogromen in Delhi verbreiten sie krude Verschwörungstheorien, in denen der muslimischen Bevölkerung oder dem Pakistanischen Staat die Schuld für die Verbreitung des Virus zugeschrieben wird.[7]

In der Schweiz sind derweil tatsächlich noch Journalist*innen damit beschäftigt, ihr Recht auf die Benutzung ihrer Zweitwohnung in Zermatt gegen die Empfehlungen der Regierung zu verteidigen.[8] Als würde es nicht auch hier um Menschenleben gehen. Der Fall Indiens zeigt aber auf, dass die Frage der Quarantäne-Massnahmen anderswo für einen viel grösseren Teil der Bevölkerung eine Frage des Überlebens ist. Dies stellt auch die NZZ in ihrem Artikel «Ein Milliardenvolk ist denkbar schlecht für das Virus gewappnet» vom 8. März[9] fest. Dass die Hauptgründe dafür in demselben neoliberalen und neokolonialen System liegen, welches die NZZ verteidigt, muss mensch dabei zwischen den Zeilen herauslesen. In einem anderen Artikel haben wir bereits auf den Zusammenhang zwischen den maroden Gesundheitssystemen im Globalen Süden und den Strukturanpassungsprogrammen der vom US-amerikanischen Neoliberalismus dominierten IWF und der Weltbank hingewiesen.[10] Im Folgenden soll hier ausgeführt werden, inwiefern der strukturell hohe Anteil des informellen Sektors im Globalen Süden, der viele Menschen den wirtschaftlichen Folgen der Quarantänemassnahmen komplett ungeschützt ausgesetzt lässt, direktes Resultat von Imperialismus und neoliberalen Strukturreformen darstellt.

Enteignung und Entrechtung: Der informelle Sektor in Indien und die kapitalistische Globalisierung

In Indien arbeiten rund 93% der Lohnabhängigen im informellen Sektor, fast 60% davon in der praktisch komplett informell organisierten Landwirtschaft. Auch von den nicht im agrikulturellen Bereich Arbeitenden sind 82% informell tätig. Das sind rund 114 Millionen Menschen, die im informellen urbanen Sektor arbeiten.[11] Ein beträchtlicher Anteil davon sind Binnen-Migrant*innen. Indiens imposantes Wachstum der letzten Jahrzehnte fusst zu einem grossen Teil auf einem andauernden Prozess ursprünglicher Akkumulation, in dem die ländliche Bevölkerung enteignet, und deren Land an multinationale Konzerne verhökert wird, damit letztere die natürlichen Ressourcen des Landes ausbeuten können. Auch die gigantischen Infrastrukturprojekte, die oft von der Weltbank und westlichen Unternehmen finanziert sind und mit der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur zu Gunsten multinationaler Konzerne einher gehen, vertreiben Millionen von Menschen. Seit den 1950er Jahren sind in Indien über 33 Millionen Menschen durch den Bau von Grossdämmen, wie dem Sardar Savoar Damm, von ihrem Land vertrieben worden, viele davon sind Dalits (abwertend oft «Unberührbare» genannt) und Adivasis (Indigene).[12] Diese Menschen wurden in die Slums der indischen Mega-Cities getrieben, um sich dort im informellen Sektor durchzuschlagen.

In den bürgerlichen Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts wurde die informelle Wirtschaft in den sogenannten «Entwicklungsländern» als ein Relikt vormoderner, feudaler Wirtschaftsformen betrachtet, die mit der zunehmenden kapitalistischen Entwicklung wegfallen würden.[13] Die Idee, dass die «Entwicklungsländer» sich auf dem gleichen Entwicklungspfad befinden, den die Industrienationen des Westens hinter sich gebracht haben, hat sich allerdings als Irrtum herausgestellt – beziehungsweise als eine ideologische Verschleierung der Realität kapitalistischer Globalisierung. Der informelle Sektor im Globalen Süden ist kein temporäres Phänomen, kein vorübergehender Entwicklungsschritt, sondern ein Grundpfeiler des globalen kapitalistischen Akkumulationsprozesses. Der Anteil der informell beschäftigten Lohnabhängigen der globalen «workforce» hat sich seit der Liberalisierung der Ökonomien des Globalen Südens und deren Integration in den Weltmarkt unter neokolonialen Bedingungen stetig erhöht.[14] In Asien und Afrika arbeiten 80% der urbanen Lohnabhängigen im informellen Sektor, in Lateinamerika sind es rund 40%. Die Ausbeutung billiger, flexibler, informeller Arbeit im Globalen Süden subventionierte schon in vor-neoliberalen Zeiten das ökonomische Wachstum des Westens, wo aufgrund erfolgreicher Klassenkämpfe die Löhne anstiegen. Die Profite sowohl der indischen als auch der multinationalen Konzerne beruhen auf dem Zugang zu und der systematischen Ausbeutung von komplett de-regulierten Arbeitsmärkten. Das Wachstum des informellen Sektors des Globalen Südens und die damit einhergehende Verschärfung der sozialen Ungleichheit innerhalb dieser Länder ist also nicht ein Symptom der fehlenden Entwicklung – es ist die Entwicklung des kapitalistischen Systems.

Neoliberale Strukturreformen

Im Gegensatz zu den Modernisierungstheoretiker*innen gaben einige Vertreter*innen des Neoliberalismus zu, dass ein Wachstum des informellen Sektors im Globalen Süden durchaus in ihrem Interesse ist: So liessen sich lästige Regulationen, Mindestlöhne, die Arbeiter*innen-Schutzgesetze und Beiträge zu Sozial- und Gesundheitsversicherungen umgehen.[15] Am Beispiel Indiens verdeutlicht sich, wie mit der neoliberalen Umstrukturierung der informelle Sektor gezielt vergrössert wurde. Um auf dem neoliberalen Weltmarkt als Nation wettbewerbsfähig zu bleiben, und auf Druck von IWF und Weltbank, strich die indische Regierung in den frühen 1990er Jahren die Subventionen inländischer Industrien, setzte Handelsregulierungen ausser Kraft, öffneten den Markt für ausländische Investitionen und heizte so den Konkurrenzkampf unter den Firmen an. Diese standen deswegen unter verstärktem Druck, die Kosten fortlaufend zu minimieren. Das Resultat war, dass sie formell Angestellte entliessen – und informell neue Arbeiter*innen anstellten, für die weder Mindestlöhne noch Sozialversicherungsbeiträge fällig sind und keine Arbeiter*innenschutzgesezte gelten. Die Privatisierung der vielen zuvor staatlichen Betriebe hat diese Dynamik massiv verstärkt. Auch hier wurde jeweils die gesamte regulär angestellte Belegschaft entlassen und zugleich wieder informell an/eingestellt.[16] Weil die Löhne im informellen Sektor bei weitem zu niedrig sind, um etwa eine Familie zu ernähren, müssen mehrere Mitglieder eines Haushaltes informell arbeiten. So vergrössert sich der Pool an billiger Arbeitskraft weiter. Die katastrophale Situation, in der sich die Lohnabhängigen in Indien aufgrund des Lockdowns befinden, ist also das direkte Resultat einer kapitalistischen, imperialistischen und neoliberalen Politik der Entrechtung von Arbeiter*innen im globalen Süden.

Natürlich ist es eine sinnvolle Massnahme, die nicht essenzielle Produktion einzustellen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Aber eben nicht unter allen Umständen und um jeden Preis. Das Herunterfahren der Wirtschaft hätte schrittweise und unter spezifischen Bedingungen stattfinden müssen, welche die existenziellen Bedürfnisse aller Menschen gesichert hätte. Es geschah jedoch abrupt und völlig unvorbereitet. Selbstverständlich ist die rechtsradikale Regierungspartei in Indien, die mit dem Lockdown in komfortabler Weise auch den massiven zivilgesellschaftlichen Protest gegen den «Citizen Amendement Act»[17] von den Strassen fegen konnte, dafür verantwortlich zu machen. Weiter gilt es aber auch die imperialistische Dynamik des kapitalistischen Weltmarktes und der neoliberalen Strukturreformen anzuprangern, welche Millionen von Arbeiter*innen im informellen Sektor systematisch entrechtet, und gegenüber den «Schutz»-Massnahmen völlig schutzlos lässt. 


[1] https://qz.com/india/1826387/indias-coronavirus-lockdown-brings-police-brutality-to-the-fore/

[2] Zur sozialen Ungleichheit im Kontext der Corona-Pandemie in Indien siehe: https://www.theguardian.com/global-development/2020/mar/30/as-the-wealthy-quaff-wine-in-comfort-indias-poor-are-thrown-to-the-wolves-coronavirus

[3] https://www.theguardian.com/world/2020/mar/30/india-wracked-by-greatest-exodus-since-partition-due-to-coronavirus.

[4] https://www.theguardian.com/world/2020/mar/30/india-wracked-by-greatest-exodus-since-partition-due-to-coronavirus

[5] https://www.indiatoday.in/india/story/covid-19-centre-asks-states-to-shut-border-as-india-reports-200-cases-in-one-day-total-tally-at-1-110-1661126-2020-03-30

[6] https://www.indiatoday.in/india/story/covid-19-centre-asks-states-to-shut-border-as-india-reports-200-cases-in-one-day-total-tally-at-1-110-1661126-2020-03-30

[7] https://countercurrents.org/2020/04/markaz-nizamuddin-communalisation-of-coronavirus

[8] https://www.tagesanzeiger.ch/der-staat-darf-die-eigentumsfreiheit-nicht-einschraenken-200280370283

[9] https://www.nzz.ch/international/experten-indisches-gesundheitswesen-ist-coronavirus-nicht-gewachsen-ld.1544864

[10] https://sozialismus.ch/artikel/2020/oekonomie-der-iwf-und-die-corona-krise/

[11] https://krieger.jhu.edu/sociology/wp-content/uploads/sites/28/2012/02/An-Economic-Sociology-of-Informal-Work-The-Case-of-India.pdf

[12] https://www.outlookindia.com/magazine/story/power-politicsthe-reincarnation-of-rumpelstiltskin/210449Arundathi

[13] https://krieger.jhu.edu/sociology/wp-content/uploads/sites/28/2012/02/An-Economic-Sociology-of-Informal-Work-The-Case-of-India.pdf

[14] https://krieger.jhu.edu/sociology/wp-content/uploads/sites/28/2012/02/An-Economic-Sociology-of-Informal-Work-The-Case-of-India.pdf

[15] https://krieger.jhu.edu/sociology/wp-content/uploads/sites/28/2012/02/An-Economic-Sociology-of-Informal-Work-The-Case-of-India.pdf

[16] https://krieger.jhu.edu/sociology/wp-content/uploads/sites/28/2012/02/An-Economic-Sociology-of-Informal-Work-The-Case-of-India.pdf 327.

[17] https://theintercept.com/2020/01/30/india-citizenship-act-caa-nrc-assam/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.