Die deutsche Bundesregierung hat sich für eine schrittweise Beendigung des partiellen »Lockdown« entschieden. Doch sie setzt mit ihrer Exit-Strategie falsche Prioritäten und riskiert einen erneuten Anstieg der Infektionen. Österreich ist bislang vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Doch die Fragen der Prioritäten stellen sich auch hier. Wer profitiert von welchen Maßnahmen? Wer wird gezwungen ein sich einem höheren Ansteckungsrisiko auszusetzen. Die Bewältigung der Pandemie ist auch eine Frage der Klassenzugehörigkeit, der Geschlechterverhältnisse und der Ökologie. Der Beitrag der marx21-Redaktion wirft wichtige Fragen auf. (Red.)

marx21-Redaktion, 16. April 2020

Bund und Länder haben am Mittwoch eine Reihe von Lockerungen der coronabedingten Beschränkungen in Deutschland beschlossen. Die Regierung gibt dabei vor, der Gesundheit der Bevölkerung höchste Priorität einzuräumen. Doch die medizinischen und sozialen Maßnahmen im Beschlusstext werden dem Ernst der Lage nicht gerecht. Es fehlen in Deutschland die grundlegendsten Materialien, um der Bevölkerung und besonders den Risikogruppen, etwa den Beschäftigten im Gesundheitssektor, den essentiellen Gesundheitsschutz zu ermöglichen. Es fehlen Milliarden von FFP-Masken und Schutzkleidung, hunderttausende Tonnen Desinfektionsmittel, Millionen von Test-Kits und Reagenzien, um massenhafte COVID-19 Tests zu ermöglichen, Beatmungsgeräte und eine adäquate personelle und finanzielle Ausstattung des Gesundheitssystems.

Auch die sozialen Maßnahmen der Regierung sind nicht ausreichend. Sie helfen den Konzernen mehr als den Beschäftigten. Für die Konzerne werden unbegrenzt Kredite bereitgestellt und Sozialversicherungsabgaben erlassen. Einen echten sozialen Rettungsschirm für die Menschen gibt es hingegen nicht. Millionen Menschen können vom Kurzarbeitergeld nicht leben. Es muss sofort auf mindestens 90 Prozent aufgestockt werden. Ebenso fehlt es an einer Gefahrenzulage und mehr Personal in den systemrelevanten Berufen. Und solange Schulen oder Kitas geschlossen sind, benötigen Eltern, die ihre Kinder betreuen eine Entgeltgarantie.

Zu früh für den Exit

Während diese Riesenbaustellen von der Bundesregierung nicht oder vollkommen unzureichend angegangen werden, bleibt die epidemiologische Lage in Deutschland hochgefährlich. Zwar scheint das exponentielle Wachstum des Virus vorerst gestoppt, aber die Zahl der Fälle steigt weiter an. Von einer Eindämmung des Coronavirus kann noch nicht die Rede sein. Auch das Robert Koch-Institut stuft die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit immer noch als hoch ein, für Risikogruppen sogar als sehr hoch. Auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) meinen: »Es ist zu früh, Restriktionen zu lockern«. Sie schreiben: »Hier gilt, je strikter die Maßnahmen, desto schneller wird der Zielwert erreicht.« Die Bundesregierung riskiert mit ihrer »Exit-Strategie« die Entstehung einer zweiten Ansteckungswelle und damit wieder Tausende von Toten.

Die Schieflage beginnt mit der Prioritätensetzung: Es ist falsch, jetzt eine Exit-Strategie einzuleiten, denn dafür fehlen die medizinischen und sozialen Voraussetzungen. Dass die Bundesregierung jetzt ausgerechnet plant, den Schulbetrieb wieder aufzunehmen, ist genauso kontraproduktiv wie den Geschäftsbetrieb im Einzelhandel zuzulassen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind von den Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie nach vorläufigen Ergebnissen rund 8,3 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen und 2,4 Millionen Schülerinnen und Schüler an beruflichen Schulen betroffen. Das RKI hatte erst kürzlich in einer Studie festgestellt, dass die Schließung von Schulen und Geschäften eine wirkungsvolle Maßnahme gegen die weitere Ausbreitung des Virus gewesen ist. Nun soll sie gelockert werden.

GEW warnt vor verfrühter Schulöffnung

Doch die Schulen sind zurzeit gar nicht für einen Betrieb unter Corona-Bedingungen vorbereitet. In Kitas, Grund- und Förderschulen kann nicht auf Abstand zu den Kindern gearbeitet werden. Die GEW fordert deswegen, Schulen nur zu öffnen, wenn gesundheitliche Mindeststandards gewährleistet sind. Dazu gehören: Flüssigseife, warmes Wasser, Einmalhandtücher und Desinfektionsmittel sowie Schutzbekleidung, wie hochwertige Atemschutzmasken, die Beratung und Vorsorge für die Beschäftigten, ebenso wie regelmäßige Grundreinigungen und die Sanierung von Toiletten. »Sind diese Standards nicht zu gewährleisten, dürfen die Schulen nicht geöffnet werden«, betonte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe.

Gleichzeitig stimmt es, dass viele Familien, insbesondere mit geringem Haushaltseinkommen, unter der Schließung von Schulen und Kitas leiden. Sie dürfen mit der Doppelbelastung von Berufstätigkeit und Kinderbetreuung nicht alleine gelassen werden. Notfallbetreuung, soziale Angebote, Beratungsstellen und staatliche Unterstützung müssen unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes zügig ausgebaut werden. Mögliche Einkommensverluste sind durch staatliche Entgeltgarantien auszugleichen.

Wirtschaftsinteressen vs. Gesundheitsschutz

Die Bevölkerung muss vor den sozialen Verwerfungen durch den »Lockdown« geschützt werden. Soziale Interessen und der Gesundheitsschutz dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Doch die Bundesregierung hat offensichtlich andere Prioritäten: Zuletzt hatten Teile der Wirtschaft massiv Druck ausgeübt, den partiellen »Lockdown« zu beenden. Entgegen der Warnungen des HZI hat die Bundesregierung dem Druck nun nachgegeben. Bezeichnend war der Satz von Angela Merkel auf der Pressekonferenz: »Wir haben die wirtschaftliche Tätigkeit nicht unterbunden, nur dort wo es Publikumsverkehr gab«. Genau auf dieser Linie macht die Regierung weiter. Im Beschlusstext heißt es: »Auch in der Pandemie wollen wir in Industrie und Mittelstand sicheres Arbeiten möglichst umfassend ermöglichen.«

Die Bundesregierung agiert höchst widersprüchlich, weil sie die Interessen der Industrie und den Gesundheitsschutz der Bevölkerung irgendwie unter einen Hut bekommen möchte. Dies klappt jedoch nicht, wie die Beschlüsse offenbaren. Die erfolgreiche Bekämpfung einer Pandemie, wird ihrer Effektivität beraubt, wenn sie der Logik des Kapitals folgt. Wichtige Maßnahmen, und zwar bevor der »Lockdown« schrittweise beendet wird, wären jetzt, die Testkapazitäten massiv zu erhöhen, die Gesundheitsämter mit wesentlich mehr Personal auszustatten und die Infektionsketten in den Betrieben wirklich zu minimieren. Nur so kann die Pandemie in den Griff bekommen werden, weil a) mit COVID-19 Infizierte überhaupt erkannt werden b) Kontakte nachverfolgt und medizinisch betreut werden können und c) keine neuen Infektionsherde entstehen. Während in der Pressekonferenz diese Maßnahmen so gut wie keine Rolle spielten, werden in dem ausführlichen Beschlusstext dazu mehr Details genannt. Diese werfen allerdings kein gutes Licht auf die Krisenstrategie der Bundesregierung.

Viel zu wenig Testkapazitäten

Stichwort Testkapazitäten: Die Regierung behauptet, dass Labore in Deutschland ca. 650.000 COVID-19-Tests pro Woche durchführen können. Abgesehen davon, dass in den Berichten des RKI zu Spitzenzeiten bisher nur Testkapazitäten von 390.000 pro Woche angegeben wurden, ist auch die Zahl von 650.000 viel zu wenig. Der Städte- und Gemeindebund hat gefordert, bis Ende Mai müssten die Tests von derzeit 60.000 auf 500.000 pro Tag hochgefahren werden. Das wären 3,5 Millionen Tests in einer Woche. Eine Steigerung um 438 Prozent. Aber auch diese Zahl ist für Massentest noch viel zu gering. Der Epidemiologe Tim Colbourn vom UCL Institute for Global Health in Großbritannien kommt in seiner Berechnung der notwendigen Testkapazitäten auf ganz andere Zahlen. Er fordert die »Laborkapazität und die notwendigen Reagenzien zur Durchführung von 10 Millionen PCR-Tests pro Tag (einer pro Woche für 68 Millionen Briten)«. Für Deutschland läge die Zahl der nötigen Kapazitäten für Massentests demzufolge bei etwa 12 Millionen pro Tag.

Im Beschlusstext der Bundesregierung gibt es im Kern nur heiße Luft. Dort wird weder eine konkrete Zielmarke genannt noch ein Datum, bis wann die Testkapazitäten um wieviel Proben erhöht werden sollen. Zurzeit reichen die Testkapazitäten noch nicht einmal annähernd aus, um zumindest die Risikogruppen permanent zu testen, also beispielsweise die Beschäftigten im Gesundheitssystem. Im Jahr 2018 arbeiteten rund 5,68 Millionen Beschäftigte im deutschen Gesundheitswesen. Würde die Bundesregierung diese Menschen regelmäßig auf COVID-19 testen lassen, kann sie genau 7 Prozent der Beschäftigten mit den vorhandenen Kapazitäten jede Woche testen.

Eine epidemiologische Sackgasse

Schon jetzt werden nur Menschen getestet, die Symptome zeigen. Alle anderen werden abgewiesen. Zudem ist nicht sicher, wie sich die Testkapazitäten weiterentwickeln. Den Laboren fehlt es an Material: Das Beginnt bei den Test-Kits (Abstrichröhrchen und Tupfer) und endet bei den sogenannten Reagenzien, die für die Tests benötigt werden. Der Vorsitzende des Berufsverband Deutscher Laborärzte (BDL) Andreas Bobrowski kommt zu dem Schluss (31.03.2020): »Die wünschenswerte flächendeckende Testung ist derzeit illusorisch«.

Die Bundesregierung weiß von dem Problem, möchte es aber offensichtlich nicht an die große Glocke hängen. Im Beschluss heißt es unverbindlich: »Der Bund sichert zusätzliche Testkapazitäten für Deutschland durch den Zukauf von Testgerät und – soweit als möglich in der aktuellen Weltmarktlage – durch die Sicherung von Einzelkits, Reagenzien und Verbrauchsmaterial durch dreiseitige Verträge unter Beteiligung des Bundes als Abnahmegarant.« Das ist mehr als dürftig. Die Bundesregierung ist anscheinend nicht gewillt, alles Nötige dafür zu tun, um Massentests auf COVID-19 durchführen zu können. Das ist epidemiologisch eine Sackgasse und gesundheitspolitisch ein Skandal.

Kaputtgesparte Gesundheitsämter

Stichwort Gesundheitsämter: Die für den Infektionsschutz zuständigen Gesundheitsämter wurden in den letzten Jahrzehnten bis auf die Knochen kaputtgespart. Seit 1995 ist die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern um 33 Prozent zurückgegangen. Die Warnungen von Beschäftigten, dass die Behörde wegen Personalmangels den Infektionsschutz nicht mehr gewährleisten kann, wurden ignoriert. Die Bundesregierung verspricht jetzt in den öffentlichen Gesundheitsdiensten vor Ort erhebliche zusätzliche Personalkapazitäten zu schaffen. Im Beschlusstext ist die Rede von mindestens einem Team von 5 Personen pro 20.000 Einwohnern. Auf ganz Deutschland gerechnet wären das 20.000 zusätzliche Stellen. Doch auch das ist viel zu wenig. Der Epidemiologe Tim Colbourn rechnet mit einer verantwortlichen Person pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Auf ganz Deutschland bezogen wären das 80.000 zusätzliche Stellen. Er schreibt: »Bei diesen Personen kann es sich um Laien handeln, die arbeitslos sind, einschließlich derjenigen, die aufgrund des Lockdowns entlassen wurden, wie z.B. in der Reise-, Unterhaltungs- oder Sportindustrie. Es werden keine vorherigen Erfahrungen oder Fähigkeiten im Bereich der öffentlichen Gesundheit verlangt, die über ein minimales Bildungsniveau und Kenntnisse der lokalen Umgebung hinausgehen, vorausgesetzt, sie sind seit mindestens einem Jahr in dem Gebiet ansässig.«

Die Bundesregierung will jetzt dafür die Bundeswehr einsetzen. Dieser Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist abzulehnen. Der Militärhaushalt wächst seit einem Jahrzehnt überproportional – in den letzten fünf Jahren um über zehn Milliarden Euro. Dieses Geld fehlt an anderer Stelle, etwa bei Gesundheit oder im Katastrophenschutz. Während die Bundeswehr konkret benannt wird, fehlen im Beschluss auch hier konkrete Vereinbarung bis wann, wieviel Menschen bei den Gesundheitsämtern eingestellt werden sollen. Das ist unverantwortlich und fahrlässig.

Gesundheitsschutz für Beschäftigte

Stichwort Infektionsketten in den Betrieben: Der von der Bundesregierung eingeleitete »Lockdown« war von Beginn an unsozial und gefärbt durch die Bedürfnisse der Kapitalisten. Infektionsketten sind deswegen nicht alle unterbrochen, vor allem in den Betrieben nicht. Dies führt zu grotesken Situationen: Es ist verboten sich mit Bekannten zu treffen, auch nicht mit Masken und Hygiene-Abstand. Wenn jedoch dein Boss entscheidet, dass du weiter in die Fabrik oder ins Büro malochen gehen sollst, ist es erlaubt ohne Maske und Hygiene-Abstand, sowohl den ÖPNV zu nutzen, also auch zu arbeiten. Nach produzieren des Mehrwerts für den Kapitalisten ist dann wieder »soziale Distanz« angesagt.

Die Bundesregierung bleibt dieser kapitaltreuen Linie ergeben. Im Beschluss werden kaum konkrete Punkte zur Frage des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten genannt. Es bleibt bei Appellen: »Die Arbeitgeber haben eine besondere Verantwortung für ihre Mitarbeiter, um sie vor Infektionen zu schützen. Infektionsketten, die im Betrieb entstehen, sind schnell zu identifizieren. Deshalb muss jedes Unternehmen in Deutschland auch auf Grundlage einer angepassten Gefährdungsbeurteilung sowie betrieblichen Pandemieplanung ein Hygienekonzept umsetzen.«

»Horror vor Abwesenheit von Profit«

Wie sollen Infektionsketten, die im Betrieb entstehen, schnell identifiziert werden, wenn die Testkapazitäten so niedrig sind? Das ist blanker Unsinn! Während es für Verstöße gegen die Kontaktsperre im Privaten einen Bußgeldkatalog gibt, sind Unternehmer nicht verpflichtet, den Gesundheitsschutz tatsächlich umzusetzen.

Mit der geplanten Öffnung der Geschäfte und der Aufrechterhaltung der Produktion auch in nicht systemrelevanten Wirtschaftsbereichen, haben sich die Unternehmerverbände durchgesetzt. Die wichtigste Forderung der Autoindustrie war: »Autohäuser bald wieder öffnen!«.

Dazu passt ein Zitat von dem Mann mit dem langen Bart: »Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. (…) und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«

Eine Arbeiterin oder ein Angestellter müsste 157 Jahre arbeiten, um das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Dax-Vorstandsvorsitzenden zu erzielen. Hierzulande verfügen die reichsten 40 Personen über das gleiche Vermögen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die 1 Prozent riskieren unsere Gesundheit für ihre Profite. Sie finden ihre Fürsprecher in den Medien, wissenschaftlichen Institutionen und natürlich auch in der Bundesregierung. Willkommen in der neoliberalen Pandemie-Bekämpfung!


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