Die Krise, welche der Corona-Virus heraufbeschworen hat, trifft alle hart. Aber sie trifft gerade bestimmte Lohnabhängige besonders hart. Einerseits sind da Arbeiter*innen, die ihren Job ohne Aussicht auf ausreichend Kompensation zur Lebenserhaltung schlicht verloren haben. Andererseits gibt es noch diejenigen Arbeiter*innen, welche für den Fortbestand und die Erhaltung einer funktionierenden Gesellschaft so unabdingbar sind, dass man sie trotz der Gefahr einer tödlichen Infektion weitermalochen lässt. Die Rede ist von den Arbeiter*innen, welche sogenannte sozial reproduktive Arbeit verrichten, also nicht primär Güter oder Dienstleistungen herstellen, sondern die Gesellschaft per se in Stand halten und erneuern. Diese Gruppe setzt sich sowohl aus Lohnabhängigen im klassischen Sinne wie auch aus unbezahlten Eltern, Grosseltern, Pfleger*innen, also sprich überwiegend weiblicher Gratisarbeit, zusammen. Zynischerweise deckt gerade deren verstärkte Ausbeutung während der Corona-Krise nicht nur ihre eigentlich schon immer unwürdigen Arbeitsverhältnisse, sondern auch deren Unerlässlichkeit für die Kontinuität der gesamten Gesellschaft per se und den Widerspruch, in welchem ihr Status zur ihrer tatsächlichen Bedeutung steht, auf. Im Folgenden wird es um eben diese paradoxe Situation gehen. (Red.)

von Tithi Bhattacharya, 7. April 2020
aus sozialismus.ch

Krankwerden zwischen Profit und Solidarität

Wenn ich in den kommenden Jahren dereinst auf diese Krise zurückblicken werde, werden mich zwei Bilder begleiten. Eines davon ist, wie Menschen in Italien gemeinsam mit ihren Nachbar*innen auf den Balkonen singen, aus Solidarität mit den Pflegekräften an der Front.

Das andere ist das Bild, der indischen Polizei, welche Wanderarbeiter*innen und ihre Kinder mit Bleiche abspritzen, weil sie es «gewagten» hatten, quer durchs Land zu gehen, sobald ihre Arbeitsplätze während des Lockdowns geschlossen worden waren und keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung standen, um sie nachhause zu bringen.

Die Bilder verkörpern jeweils die Antwort einfacher Leute auf die Coronavirus-Pandemie und auf die Antwort des Kapitalismus darauf. Eine Antwort ist eine der Solidarität und der Pflege, um Leben zu erhalten, die andere, Knastdisziplin im Interesse des Profits.

Tithi Bhattacharya sprach im Januar 2020 am Anderen Davos in Zürich.

Beispiele solcher einander diametral entgegengesetzten Antworten überziehen die Landschaft der gegenwärtigen Krise. Palästinensische Bäuer*innen überlassen den Leuten, die es sich nicht leisten können, Essen zu kaufen, die frischen Lebensmittel am Strassenrand, während Viktor Orbán die Krise genutzt hat, um per Dekret zu herrschen[1]. Die Arbeiter*innen von General Electric in den Vereinigten Staaten zwingen die Firma, Beatmungsgeräte herzustellen, während medizinische Personalunternehmen versuchen, ihre Profite aufrechtzuhalten, indem sie Löhne und Sozialleistungen der Angestellten kürzen, welche die Viruspatient*innen pflegen.

Die Pandemie deckt dies auf tragische Weise auf, während es eigentlich die Konzentration auf das Retten und das Erhalten von Leben ist, welche jetzt notwendig wäre. Der Kapitalismus ist nur um die Rettung der Wirtschaft oder der Profite besorgt. Dies in einem Ausmass, dass ein texanischer Politiker – seine Klasse verkörpernd – von den US-Amerikaner*innen wollte, dass diese ihre Grosseltern opfern, um die Wirtschaft zu retten.

Das Primat des Profits über Solidarität ist bezeichnend für den Kapitalismus

Diese Beziehung zwischen dem Schaffen von Profit und dem Schaffen von Leben unter dem Kapitalismus ist der Fokus der Theorie der sozialen Reproduktion (SRT). Die Hauptargumente der SRT lauten wie folgt.

Während der Kapitalismus als System nur am Profit interessiert ist, wobei Profit die Lebensader und der Motor des Kapitals ist, unterhält dieses System eine Beziehung der reluctant dependence, dt. unwillige Abhängigkeit (Anm. d. Red.), zu den Prozessen und den Institutionen der Lebensschaffung. Das System ist davon abhängig, dass Arbeiter*innen Waren herstellen, welche dann verkauft werden, um Profite zu machen. Das System kann folglich nur überleben, wenn die Leben der Arbeiter*innen kontinuierlich und zuverlässig reproduziert werden, indem sie über die Generationen ersetzt werden. Ernährung, Wohnraum, öffentlicher Verkehr, öffentliche Schulen und Krankenhäuser sind alles Bausteine der Lebensschaffung, welche die Arbeiter*innen und ihre Familien sozial reproduziert. Der Grad des Zugangs zu ihnen bestimmt das Schicksal der Klasse als Ganzes und noch immer leisten dabei Frauen den Löwenanteil der Leben schaffenden Arbeit weltweit. Aber der Kapitalismus verhält sich unwillig, nur irgendeinen Anteil seines Profits für Prozesse, die Leben erhalten und unterhalten, auszugeben. Das ist der Grund, weswegen alle Pflege- und Betreuungsarbeit im Kapitalismus entwertet [2] oder unbezahlt ist, während Institutionen der Lebensschaffung wie etwa Schulen und Krankenhäuser entweder privatisiert werden oder permanent unterfinanziert sind.

Die Coronavirus-Pandemie zwingt den Kapitalismus vorrübergehend dazu, Lebensschaffung zu priorisieren. Neue Krankenhäuser werden gebaut, um sich um die Erkrankten zu kümmern. Sonst drakonische Einwanderungsrechte werden gelockert, während Nobelhotels beschlagnahmt werden, um Obdachlose zu beherbergen. Aber wir sehen gleichzeitig auch eine Eskalation der freiheitsbeschränkenden Funktion kapitalistischer Staaten. Israel hat die Krise genutzt, um die Überwachung auszuweiten. Bolivien hat die Wahlen aufgeschoben und Indien erlebt gerade einen Anstieg der Polizeibrutalität.

Während wir noch mitten in der Krise stecken, müssen wir verlangen, das Arbeiter*innen, welche essentielle Dienste erbringen wie unsere Krankenpfleger*innen, unsere Lebensmittelarbeiter*innen, unsere Ärzt*innen, unsere Putzfachkräfte, unsere Müllwerker*innen – in überwiegender Mehrheit Frauen – die Würde und die Löhne erhalten, die sie verdienen. Börsenmakler*innen und Investmentbanker*innen haben es auf keine Liste der «essentiellen Arbeiter*innen» irgendeines Staates geschafft. Als Feminist*innen sollten wir verlangen, dass die Einkommenselite jetzt und für immer ihre Nützlichkeit reflektiert.

Aber sobald die Pandemiekrise vorbeigeht, können wir nicht einfach zum «business as usual» zurückkehren. Wir müssen verlangen, dass nicht mehr der Kapitalismus unsere Leben in die Krise versetzt, sondern wir seine Dynamik des Schaffens von Profit über dem Schaffen von Leben in eine Krise versetzen. Damit Leben und Lebensschaffung zur Basis der sozialen Organisation werden, zum Gedeihen der Vielen anstatt zum Wohlstand der Wenigen.

Übersetzung durch die Redaktion von sozialismus.ch

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