Noch vor wenigen Tagen rühmte sich der chilenische Präsident Sebastián Piñera dafür, dass sein Land eine friedliche «Oase» inmitten der im Chaos versinkenden lateinamerikanischen Länder sei. Dies hat sich nun buchstäblich in Schall und Rauch aufgelöst. Aufgrund massiver Proteste gegen die unsoziale Regierungspolitik hat der Präsident am Freitag 18. Oktober den Ausnahmezustand in der Hauptstadt Santiago und weiteren Städten ausgerufen. In der Nacht auf Sonntag sowie jener auf Montag wurde zudem eine Ausgangssperre verhängt. Panzer und Soldaten patrouillieren auf Santiagos Strassen und lassen Erinnerungen an die Militärdiktatur wachwerden.

von Luca Caplero
21. Oktober 2019, aus sozialismus.ch

Was ist passiert? Seit der Militärdiktatur, welche das Land zwischen 1973 und 1989 mit Gewalt und Schrecken beherrschte, gilt Chile als Musterschüler des Neoliberalismus. Das Bildungs- und Gesundheitssystem wurde privatisiert, Arbeits- und Gewerkschaftsrechte zunichte gemacht und ein von privaten Finanzinstituten kontrolliertes Rentensystem aufgebaut, das den allerwenigsten Rentner*innen ein würdiges Leben ermöglicht.

Die sogenannte «demokratische Transition» Anfang der 1990er Jahre brachte diesbezüglich keine Veränderungen. Vielmehr paktierte die herrschende Klasse mit den Militärs und liess die neoliberalen Grundpfeiler der Gesellschaft und Politik intakt. Dazu gehörte auch die Verfassung von 1980, die von Pinochet erlassen worden war und nun von den neuen Regierungen unangetastet blieb. So ist es nicht verwunderlich, dass Chile zu den Ländern mit der grössten sozialen Ungleichheit gehört.

Seit Jahrzehnten gibt es massive Proteste gegen dieses neoliberale Modell. Schüler*innen und Student*innen kämpften 2005 und 2011 mit massiven Demonstrationen und Streiks gegen unbezahlbare Studiengebühren; 2016 gab es grosse Mobilisierungen gegen das Rentensystem und seit mehreren Jahren kämpft eine starke feministische Bewegung gegen Gewalt an Frauen und für sichere und kostenlose Abtreibung. Nicht zu vergessen sind auch die Widerstände der indigenen Mapuches gegen strukturelle Diskriminierung, Umweltverschmutzung sowie Landenteignungen durch Grosskonzerne.

Zu diesen sozialen Kämpfen schien sich am Freitag, 18. Oktober zunächst eine scheinbar nebensächliche Mobilisierung hinzuzugesellen. Aufgrund der Ankündigung, die Ticketpreise der hauptstädtischen U-Bahn zu erhöhen, riefen Schüler*innen der Sekundarschule dazu auf, die Barrieren der Metrostationen zu überklettern. Tausende Menschen stürmten in die U-Bahn und es kam zu Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften. Der Regierung entglitt die Kontrolle vollständig und die wahrscheinlich grösste politischen Krise seit der Diktatur begann. «Die Erhöhung der Ticketpreise der Metro wurde zu einem regelrechten Katalysator der sozialen Unzufriedenheit mit den nicht existierenden sozialen Rechten in Chile.»

Der Präsident liess verlauten, dass er den Unmut verstehe. Am 19. Oktober nahm er schliesslich die Preiserhöhung zurück. Trotzdem wusste er nichts Besseres zu tun, als den Ausnahmezustand zu verhängen und den Protesten mit militärischer Gewalt zu antworten. Damit wird das Versammlungsrecht ausgesetzt und die Armee ermächtigt, Polizeiaufgaben wahrzunehmen. So wurde ein General für 15 Tage zum «Chef der nationalen Sicherheit» ernannt. „Wir befinden uns im Krieg“, rief der Präsident am 20. Oktober an einer Ansprache.

Trotz der Einschüchterungsversuche und der Ausgangssperren gingen auch am Sonntagabend Tausende Menschen auf die Strassen Santiagos. In zahlreichen weiteren Städten und Regionen gab es Strassenblockaden und Demonstrationen. Die Demonstrierenden sind vor allem junge Menschen, die das Trauma der Militärdiktatur nicht am eigenen Leib erfahren mussten.

20 Organisationen von Schüler*innen, Student*innen und Feministinnen haben zu einem Generalstreik am Montag 21. Oktober aufgerufen. Die kämpferische Gewerkschaft der Hafenarbeiter*innen hat sich diesem Aufruf angeschlossen. Die Gewerkschaft unterstrich, dass es um mehr geht als um die Erhöhung der Ticketpreise: Tiefe Löhne, keinen rechtlichen Schutz vor Ausbeutung am Arbeitsplatz, miserable Renten sowie schlechte Qualität des Gesundheitssystems und fehlende Medikamente. Seither haben sich Proteste ausgedehnt. Die Repression schlägt unerbittlich zu. Bereits wurden über ein Dutzend Personen getötet.

In der Zeitung «El Mostrador» heisst es: «Was passiert, ist nicht nur eine Niederlage der Regierung, sondern der gesamten politischen Elite, die Opposition miteingeschlossen. Wie es immer wieder gesagt wird: Im Grunde genommen bricht gerade die gesamte angestaute soziale Unzufriedenheit aus. Dies löst sich weder mit reiner Gewalt noch mit Soldaten auf den Strassen und einer Ausgangssperre.»

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